von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.11.2016
Auf dem Weg nach oben
Sie ist jung, talentiert und jetzt auch erfolgreich: Die aus dem Thurgau stammende Künstlerin Sarah Hugentobler sorgt gerade für Schlagzeilen. Über ihr neues Leben mit dem Ruhm hat sie mit uns gesprochen.
Am Ende ist immer alles ganz klar. Dinge fügen sich, wie ein Puzzle, das sich von selbst zusammensetzt. Dann weiss Sarah Hugentobler: Jetzt ist alles gut, jetzt hat alles seine Richtigkeit. Aber der Weg dahin? Kann auch schon mal trübe bis finster sein. Sarah Hugentobler ist Künstlerin. Videokünstlerin, um genau zu sein. In ihren Arbeiten beschäftigt sie sich viel mit Themen, die gerade auch die Gesellschaft beschäftigen. Oft trifft sie dabei den Nerv der Zeit.
Vielleicht auch deshalb ist ihr Name in verschiedenen Medien derzeit häufiger zu lesen. Die 35-Jährige hat einen Lauf, wie man so sagt. Schon 2013 war sie eine der Künstlerinnen der Werkschau, auch bei der diesjährigen ist sie mit einer neuen Arbeit (siehe Video weiter unten) dabei. Und im Oktober gab es dann noch eine gute Nachricht für Hugentobler: Die Kulturstiftung schickt sie als erste Stipendiatin in ein neues Atelier in die serbische Hauptstadt Belgrad. Dort hat sie keinerlei Verpflichtungen und kann machen, was sie will. "Ich freue mich sehr darauf. Ich kenne die Stadt bisher noch nicht, bin aber gespannt auf das Kennenlernen", sagt die 35-Jährige im Gespräch mit thurgaukultur.ch
Endlich Zeit haben für Dinge, für die man sonst keine Zeit hat
Was sie dort vorhat? "Ich möchte die Zeit in Belgrad einerseits nutzen, um mein technisches Können im Bereich von den für meine Videos genutzten Computerprogrammen zu verbessern. Andererseits will ich mich für ein künftiges Projekt in das Thema der Astrophysik und der modellartigen Darstellung von Raum vertiefen." Darüber hinaus soll aber auch Zeit bleiben, Stadt und Leute kennenzulernen.
Fragt man sie nach ihrer Arbeitsweise, dann erklärt sie es an einem Beispiel: "Ich suchte ein Genre, an das ich Themen, die mich interessieren, anknüpfen konnte. Die Kopie im digitalen Zeitalter, das Mash-up, Vervielfältigung der Identität waren unter anderem Inhalte, die mich zur Idee des Filmes "Astronauten" brachten." Es ging dabei auch darum, eine bestimmte Stimmung abzubilden. Wie sie diese Stimmung erreichen könnte, wusste sie zu dem Zeitpunkt noch nicht, das ergebe sich im Prozess, erklärt Hugentobler. Mit diesem leichten Gepäck suchte sie nach einem passenden Drehplatz und fand eine alte Industrieküche, der perfekte Drehort für ihre Idee: "Der Raum war ausschlaggebend für Vieles, was danach passiert ist", sagt die Künstlerin. Vor Ort hat sie dann erstmal gefilmt - komplett ohne Drehbuch. "Ich sammele sehr viel, suche nach der richtigen Stimmung für die Figuren, probiere viel aus. Erst hinterher wähle ich aus", gibt die 35-Jährige einen Einblick in ihre Arbeit.
Sarah Hugentoblers "Astronauten" im Trailer
Dass die aus Eschenz stammende Künstlerin überhaupt in der Bildenden Kunst gelandet ist, hat sich auch erst verhältnismässig spät ergeben. Angefangen hat sie mit ihrem künstlerischen Schaffen beim Theater. "In semi-professionellen Bühnen habe ich mich ausprobiert, ich dachte, das wäre mein Weg. Aber inzwischen weiss ich - die freie, bildende Kunst passt am Besten zu mir. Es fühlt sich jetzt jedenfalls alles total richtig an", blickt die 35-Jährige zurück. Nach einem Vorkurs an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich hat sie an der Berner Hochschule der Künste einen Bachelor in Fine Arts absolviert.
In dieser Zeit hat sie sie sich auch für den Weg als freie Künstlerin entschieden: "Ich wollte es einfach versuchen und nicht später bereuen, dass ich es nicht gewagt habe", sagt sie. Dass der Weg nicht einfach werden würde, hatte sie vermutet. Abgehalten hat es sie nicht. Der aktuelle Erfolg gibt ihr Recht. Wobei? Was ist schon Erfolg? Jeder bemisst ihn anders und es war auch nicht der ursächliche Beweggrund für Hugentobler, diesen Weg zu gehen. Sie will Dinge anstossen, Diskussionen ermöglichen, Denkmuster erweitern. Ihre Arbeiten sind oft rätselhaft wie Filme von David Lynch. Es liegt immer etwas spürbar Unheimliches in der Luft. Genau das ist der Grund, weshalb man sich ihrem Werk, einmal in Berührung, so schwer verschliessen kann.
Erfolg? Auch nur eine Frage der Perspektive
Die Sache mit dem Erfolg sieht die Künstlerin ohnehin gelassen. Sie weiss, dass es auch jederzeit wieder vorbei sein kann. Auch deshalb will sie ihren Brotberuf als Erzieherin nicht aufgeben. "Für mich ist das zum einen ein guter Ausgleich zur künstlerischen Arbeit und zum anderen möchte ich weiterhin finanziell unabhängig bleiben als Künstlerin. Der Job hilft mir dabei", sagt sie.
Bei der Werkschau 2016 ist sie mit einer neuen Arbeit vertreten. Hierbei spürt sie erneut ihrer Familiengeschichte nach und steht gemeinsam mit ihrer Schwester Lea auch vor der Kamera. In dem Video "Marthe und Mathilde - Versuch einer Annäherung" nähern sich die Schwestern ihren Grosstanten Marthe und Mathilde an, die in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof im Thurgau lebten. Die Schwestern versuchen die beiden Charaktere und ihr Verhältnis zueinander nachzuspielen, werden dabei aber immer wieder von der eigenen Geschwisterbeziehung eingeholt. "Die Videoarbeit reflektiert nicht nur die duch Familienstrukturen festgeschriebenen Identitäten, sonern fragt auch nach den Rollenbildern, die den Frauen bis zur Mitte des 20. JAhrhunderts in einem ländlichen Umfeld in der Schweiz zustanden", heisst es im Ausstellungskatalog zur Werkschau. Zu sehen ist die Arbeit ab 19. November in der Galerie widmertheodoridis in Eschlikon.
Trailer zu "Marthe und Mathilde - Versuch einer Annäherung"
Inzwischen arbeitet die umtriebige Künstlerin längst am nächsten Projekt. Damit wird sie zurückkehren auf die Theaterbühne. Gemeinsam mit einem Schauspieler und einem Musiker erarbeitet sie das Bühnenstück "Identitäter", das im Januar 2017 im Berner Schlachthaustheater Première feiert. Es soll die Optionsvielfalt der Gegenwart mit Video, Schauspiel und Musik thematisieren.
Nach der Premiere in Bern heisst es für Sarah Hugentobler dann Kofferpacken. Anfang Februar geht ihr Flieger nach Belgrad. "Für mich ist das dann ein perfekter Zeitpunkt zu gehen", freut sich die Künstlerin auf ihre Zeit in der serbischen Metropole. Sie will sich in diesen sechs Monaten dort auch selbst beobachten. "Ich bin gespannt, was das mit mir und meiner Arbeitsweise macht, wenn ich komplett jenseits von Zeit- und Finanzdruck arbeiten kann."
Das Atelierstipendium
Das Stipendium soll nach Angaben der Kulturstiftung künftig einmal jährlich vergeben (nächste Ausschreibung: Februar 2017) und richtet sich an Kunstschaffende aus allen Bereichen (Bildende Kunst, Fotografie, Video, Film, Literatur, Architektur, Musik, Tanz, Theater oder Performance). Die eingegangenen Bewerbungen wurden von einer Jury aus externen Experten (Gesa Schneider, Leiterin Literaturhaus Zürich und Co-Leiterin Museum Strauhof Zürich / Daniel Morgenthaler, Kurator Helmhaus Zürich) und internen Experten (Claudia Rüegg, Stiftungsratspräsidentin und Musikerin / Irina Urungenau, Stiftungsrätin und Musikerin / Gioia Dal Molin, Beauftragte der Kulturstiftung und Kunstwissenschaftlerin) gesichtet.
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