von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 14.10.2016
Der talentierte Herr Rütimann
Seit 17 Jahren lebt Christoph Rütimann im Thurgau. In dieser Zeit hat der Künstler unzählige Werke und Ausstellungen geschaffen. Für sein herausragendes künstlerisches Werk wird er am 26.Oktober in der Kartause Ittingen vom Kanton Thurgau mit dem Kulturpreis ausgezeichnet. Wir haben ihn vorab in seinem Atelier besucht.
Ländliche Idylle, links und rechts der Strasse imposante Bauernhäuser. Ansonsten? Weite Flächen, viel Grün. In Reiseführern steht über solche Orte oft, sie lüden zum Verweilen ein und dass sich vor allem müde Grossstadtaugen in all der Weite endlich mal entspannen könnten. Reiseführer übertreiben eben oft. So ist es auch bei diesem Ort. Zwar bietet der Pizzabäcker am Ortsende jeden Mittwoch „Pizza-Wahnsinn" an, aber wenn nicht gerade die Kirchenglocken läuten, dann ist es hier vor allem eines - ruhig. Sehr ruhig. Allein die Durchgangsstrasse nach Kreuzlingen zeugt von so etwas wie, nun ja, Urbanität.
So hatte man sich ein Zentrum der Schweizerischen Gegenwartskunst jetzt nicht unbedingt vorgestellt. Aber dennoch ist es eines. Willkommen in Müllheim, am Bodenseerücken zwischen Frauenfeld und Weinfelden. Man kann dieses Zentrum der modernen Kunst sehr leicht verpassen. Der Ort besteht quasi nur aus einer Strasse, da ist man schnell durch. Wo ist es nun dieses Zentrum? Die Antwort ist 42. Wie so oft in der Kunst. Hinter der Tür mit der Hausnummer 42 liegt sie - die verheissungsvolle Moderne. Und das in einem alten Bauernhaus, das mit seinen kleinen heimeligen Räumen, den lichtdurchfluteten Fluren und dem üppigen Garten das Zeug für ein Titelthema in dem Magazin „Schöner Wohnen" hätte.
Hier also wohnt Christoph Rütimann. Künstler, Grübler, Wortspieler, Handwerker, Multitalent. Ein Mann, der sogar Kakteen Töne entlocken kann. Aber dazu später mehr. Christoph Rütimann selbst würde von all dem Gerede über Zentrum und Moderne mutmasslich wenig halten. Er ist eher ein Macher als einer der grosse Töne spuckt.
Die Liste der Preise und Ausstellungen ist lang
Muss er auch gar nicht. Die Lobpreisungen seiner Arbeit kommen in der Regel ungefragt - ganz von alleine. Seit 1981 ist er regelmässig an Ausstellungen und Performances im In- und Ausland präsent. 1993 vertrat er die Schweiz an der 45. Biennale di Venezia. 2007/2008 zeigten das Kunstmuseum St. Gallen, das Kunstmuseum Bonn und das Kunstmuseum Thurgau eine umfassende Retrospektive. Wichtige Museumsausstellungen fanden 2012 im Kunsthaus Zug und 2016 im Kunstmuseum Solothurn statt. Für sein Werk erhielt Christoph Rütimann diverse Auszeichnungen. In diesem Jahr kommt ein weiterer Preis hinzu: Am Mittwoch, 26.Oktober, erhält Christoph Rütimann den Thurgauer Kulturpreis 2016. Er ist dotiert mit 20 000 Franken und soll das herausragende Werk und das „vielfältige Schaffen" des Künstlers würdigen, wie es im Juli bei Verkündung der Preisvergabe in einer Medienmitteilung des Regierungsrats hiess.
Wir besuchen den so gelobten an einem Dienstagmorgen. Die Glocken des Kirchturms schlagen 11 Uhr und Rütimann öffnet die Tür. „Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie doch schon mal rein, ich mache noch schnell einen Kaffee", sagt er. Der Künstler trägt hellblaue Jeans, dunkelblauen Pullover und Schirmmütze. 61 Jahre ist er inzwischen, sein Gesicht wirkt deutlich jünger, seine Augen funkeln voller Energie.
Aber wie sollte es auch anders sein? Ohne Energie hätte niemand ein solch beeindruckendes und vor allem vielseitiges Oeuvre geschaffen. Schubladen verbieten sich bei Rütimann, weil er einfach schon so viele verschiedene Dinge gemacht hat: Zeichnungen, Malerei, Installationen, Video, Performances, Klangarbeiten. „Ich war immer neugierig, hatte immer Lust auf etwas Neues. Die Lust am Ausprobieren hat mich oft angetrieben", sagt er, als er den Kaffee bringt. Sich auf eine Kunstform zu beschränken? Nicht Rütimanns Ding. Warum auch? „Für mich sind die verschiedenen Formen wie unterschiedliche Sprachen. ich nutze sie je nach Kontext, Werk und Thema und spiele dann mit ihnen", erklärt der 61-Jährige.
Die Arbeit mit den Händen steht am Anfang
Wie wird so jemand, wie er ist? Bei Christoph Rütimann war das Interesse, etwas zu gestalten schon früh da. Dabei ging es noch längst nicht um so etwas wie Kunst. Aber die Beschäftigung mit Material hat ihn fasziniert. Dinge zu bearbeiten, zu verändern. Mit den eigenen Händen. Das hat ihm schon als Kind Freude bereitet. Aufgewachsen ist er in Graubünden, seine Grosseltern lebten in der grossen Stadt, in Zürich. Immer wenn er sie besuchte, nahm ihn sein Grossvater mit ins Museum. „Ich habe dann immer mehr gemerkt, dass es mich zur Kunst zieht", sagt Rütimann heute.
Trotzdem hat er dann doch erstmal eine andere Ausbildung gewählt: Erst absolvierte er das Primarschulpatent, danach besucht er von 1976 bis 1980 die Schule für Gestaltung in Luzern und liess sich zum Zeichenlehrer ausbilden. „Ich habe gerne unterrichtet, aber mir war auch bald klar, dass ich noch etwas anderes brauche. Alleine der Schuldienst, das wäre nichts gewesen", erinnert sich der Künstler. Die Ausbildung zieht er dennoch durch. Auch mit dem Glauben daran, dass er danach etwas Anderes wird machen können. Er vertraute auf seine Talente, echte Zweifel an diesem Weg habe es nicht gegeben. Also hat er es einfach gemacht. Er startete mit Performances, Installationen und machte so von sich reden. Das Vertrauen auf seine Talente zahlte sich aus.
In seinem Atelier sieht es ein bisschen aus wie in seinem Kopf
Wer das Glück hat, Rütimann in seinem Müllheimer Atelier besuchen zu dürfen, der bekommt auch einen kleinen Einblick in den Kopf des Künstlers. Alles ist sehr geordnet, sehr strukturiert. Zwei Scheunen gehören zu dem Bauernhaus, in dem er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse lebt. Beide Scheunen sind bis unter die Decke voll mit seinen Arbeiten. Grosse installative Arbeiten aus seinen frühen Jahren finden sich hier ebenso wie eine ganz frische Reihe, die er in diesem Jahr angefertigt hat. Es ist wie ein Rundgang durch fast 40 Jahre Schaffenskraft. Dort wo die Bauern einst das Heu lagerten, lagert nun seine Kunst. Christoph Rütimann mag diesen Vergleich, weil beides viel mit Handwerk und harter Arbeit zu tun hat. Es liegt ihm viel an diesem Handwerk, das werde heute zu sehr vernachlässigt in der Kunst: „Das Handwerkliche muss seinen Platz haben, auch als Künstler sitzt man heute viel zu oft vor dem Computer und glaubt, dort Lösungen zu finden", sagt Rütimann.
Suchte man nach einem Leitmotiv, das sämtliche Arbeiten von Christoph Rütimann verbindet, dann wäre es wohl am ehesten die Neugier. Sie stand am Anfang aller Arbeiten. Sie trieb ihn immer wieder an. Sie liess ihn auch immer wieder neue Dinge ausprobieren. „Der Schaffensprozess ist für mich ein Dialog. Ich will dabei auch lernen und nicht mit abgeschlossenem Wissen an eine Arbeit gehen, sondern mir Vieles beim Machen erarbeiten", erklärt der gebürtige Züricher seine Arbeitsweise. Viel mehr ins Detail gehen kann er nicht. „Dieser ganze Prozess ist sehr komplex, abhängig von ganz vielen Dingen, das man ihn unmöglich endgültig beschreiben kann", ergänzt der 61-Jährige.
Wenn die Kakteen anfangen zu singen
Sehr oft hat er auch sehr ungewöhnliche Ideen. Wie damals 1988 mit den Kakteen. Bei der Performance „Das Spiel einiger Dornen in Wachs" zog er ein Blatt Papier nach dem anderen über die Stacheln als würde er mit einem Bogen die Saiten streichen. Die Dornen ritzten sich in die Wachsschicht des Papiers ein, blieben daran hängen, rissen sie auf und hinterliessen ihre Spuren: „Es entstanden feinnervige weisse Zeichnungen auf schwarzem Grund, die Rütimann nach dem Konzert an die Galeriewand nagelte. Das Zeichnen hatte den Ton hervorgebracht, und das Tonereignis war zur Bildwirklichkeit geworden", staunt ein Autor in dem grossen Katalog „Der grosse Schlaf". Die Kakteen begleiteten Rütimann fortan immer wieder durch sein Werk. Heute dienen sie manchmal noch als Begleitinstrument, wenn der Künstler eine Lesung seiner Frau auf diese Weise untermalt.
Was Rütimann gar nicht mag, ist: Unreflektiertheit. Wenn Oberflächen für bare Münze genommen werden, ohne sie zu hinterfragen. Wenn sich die Kunst zu sehr dem Kommerz an den Hals schmeisst, weil man gerade eben richtig viel Geld mit einer bestimmten Art von Kunst machen kann. „Marktgerechte Produktion" ist so eine Phrase, bei der sich der 61-Jährige mutmasslich übergeben muss. Kunst, auch das ist so ein Merksatz von Rütimann, ist für ihn immer mehr als die oberflächliche Verschönerung des Alltags.
Grosse gelbe Wand - Kunstwerk von Christoph Rütimann
Und wie kam das jetzt mit dem Gelb? Dazu muss man wissen: Gelb gilt als Rütimanns Lieblingsfarbe, sie prägt viele seiner Arbeiten. „Ich mag die Farbe einfach, aber es liegt auch daran, dass es die hellste Farbe ist. Das ist gerade bei meinen „Hinter-Glas-Arbeiten" relevant, weil das Licht Gelb anders reflektiert als, sagen wir, Blau", erklärt Rütimann. Gelb strukturiere Bilder auch gut in Zentrum und Peripherie, findet der Künstler.
Und plötzlich, Rütimann steckt sich eine Zigarette an, nachdem er höflich gefragt hatte, ob das für den Gast denn auch in Ordnung sei, findet man sich mitten in einer Diskussion über Kunst im Allgemeinen, den aufgeblähten Kunstmarkt und wie man sich als ernsthafter Künstler selbst dazu verhält. Rütimann kann das gut, Diskussionen führen, ohne zu viele Worte zu verlieren. Wenige Sätze reichen aus und jeder spürt, dass dieser Mann mit jeder Faser seines Körpers Künstler ist. Geboren in Zürich, aufgewachsen im bündnerischen Schiers, später noch einige Jahre in Luzern. Seit 1999 lebt er gemeinsam mit seiner Frau Zsuzsanna Gahse in diesem behaglichen Bauernhaus. 17 Jahre am Stück - so lange hatte er zuvor noch nirgendwo verbracht. Auch wenn er manchmal scherzt, dass das Beste am Thurgau die Nähe zu Zürich sei, ist das doch immer liebevoll gemeint. Er mag sein Leben im Bauernhaus jetzt und er schätzt die Ruhe, die Landschaft, die Natur um sich herum. „Ich lebe gerne hier", sagt er dann noch - und schliesst die Tür.
Mehr zum Werk von Christoph Rütimann gibt es hier
www.art-tv.ch/1509-0-Kunstmuseum-TG-l-Christoph-Ruetimann.html
http://www.sikart.ch/kuenstlerInnen.aspx?id=4005207
Der Kulturpreis
Der mit 20 000 Franken dotierte Thurgauer Kulturpreis wird am Mittwoch, 26. Oktober 2016, um 20 Uhr im Rahmen einer öffentlichen Feier im Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen durch Regierungspräsidentin Monika Knill, Chefin des Departements für Erziehung und Kultur, übergeben. Mit dem Kulturpreis, der seit 1986 ausgerichtet wird, spricht der Regierungsrat seinen Dank und seine Anerkennung aus für ausserordentliche kulturelle Leistungen von Privaten und von Institutionen, die das kulturelle Leben im Kanton in besonderer Weise bereichern. Die Preisträgerinnen und Preisträger werden jeweils von der Kulturkommission des Kantons Thurgau nominiert.
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