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von Brigitta Hochuli, 25.04.2016

Kulturstiftung auf Blustfahrt

Kulturstiftung auf Blustfahrt
Christian Schärrer, der letzte Bahnhofvorstand von Aadorf | © Christine Forster

Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau lud zur zweiten Blustfahrt am letzten Sonntag im April. Sie endete im Paradies. In zwei Bussen wurden die Ausflügler durch Schneegestöber und Kanton gefahren.

Brigitta Hochuli

Besammlung am Marktplatz Frauenfeld morgens um 10 Uhr. Fahrt nach Aadorf in zwei Fünfsterne-Bussen mit Beinfreiheit. Unser Fahrer heisst Roger Schönholzer und kennt die Gegend hinter dem Frauenfelder Sonnenberg wie seine Hosentasche. Begleitet werden wir abwechselnd von den Organisatoren Klaus Hersche und Stefan Keller. Die beiden zitieren jeweils Fundstücke aus Zeitungen und Literatur. Jetzt liest Klaus Hersche im HInblick auf den ersten Halt ein Gedicht von Jakob Christoph Heer (1859 bis 1925). „Wir sind kein Volk von Kunst und Dichtern“, gibt er den kulturinteressierten Reisenden zu bedenken.

*

Erste Station: Aadorf. Schon mal gehört vom einem verpassten Kaiserbesuch? Kaiser Wilhelm II. war am 6. September 1912 zur Truppenschau erwartet worden. Zu seinem Empfang hatte man einen Prachtbau von Bahnhof gebaut - angeblich. Doch was tat der Kaiser? Er war zwei Tage zuvor mit dem Auto in die Kartause Ittingen gefahren, um dort ausgiebig zu tafeln. Aadorf beehrte er später nur mit einem Blick durch das Zugfenster.

Am alten Kaiserbahnhof von Aadorf zu sehen. Bild: Christine Forster

 

Über diese Geschichte und die Geschichte des Bahnhofs bis heute erzählte kenntnisreich und mit Witzen garniert Christian Schärrer, der letzte Bahnhofvorstand von Aadorf. Schärrer ist nach 26 Jahren am 8. April frühpensioniert worden. Die Weichen werden nun von Flughafen Kloten aus ferngesteuert. Die Bahngeschichte ergänzte der kantonale Denkmalpfleger Ruedi Elser mit Details zum Gebäude. Nach verschiedenen Renovationen entspreche es aktuell dem Original von 1912. Ganz besondere architektonische Mühe habe man sich mit den Wartesälen, aber auch mit der WC-Anlage und einem monumentalen Cheminée gemacht.

Unterwegs. Der Notausgang blieb während der Blustfahrt unbenutzt. Bild: Brigitta Hochuli

 

11.30 Uhr. Weiter im Bus in die Gegend von Schönholzerswilen, wo einst eine Blutegelzucht international Furore machte. Draussen schneit es. Wir treffen auf geologisch vielschichtiges, steiles Gelände, doch es lockt eine Kultstätte. Kantonsarchäologe Hansjörg Brem beschwört geistreich einen „immer wieder fantasiebeflügelnden“ magischen Ort.

Das Bruderloch im extra bereitgesstellten LED-Licht. Bild: Christine Forster

 

Die Höhle heisst Bruderloch, um das sich Legenden ranken. Erdmännchen sollen von hier aus den Menschen Wohltaten erwiesen haben. Brem bezeichnet den Abstieg der Blustfahrer ins Loch als Bewegungselement, das es auf allen Kreuzfahrten gebe.

*

Dritte Station: Kornhaus Romanshorn. Es wird ja nun nichts aus den Plänen des Kantons. Das Kornhaus war bis vor kurzem fürs Historische Museum Thurgau vorgesehen. Aber es hat trotzdem seine Geschichte. Nina Stieger, Geografin, Raumplanerin ETH und seit 2013 Stadtentwicklerin von Romanshorn, erzählt vom Bau des Hauses 1871. Hier wurden Getreide und ungarischer Wein gelagert, bis 1905 an die SBB verkauft wurde. Es florierte der Tourismus. Romanshorn bewirtschaftete 72 Hotels.

Romanshorner Seeufer im Schneegestöber. Bild: Christine Forster

 

Doch dann der Clou: Beim Stehlunch referiert Ulrich Schädler. Er ist Direktor des Schweizer Spielmuseums in La Tour-de-Peilz und plant im Kornhaus eine Filiale. „Wir wollen in der Deutschschweiz ein zweites Standbein haben“, teilt er den verblüfften Zuhörern mit. „Zuerst war es eine Utopie, jetzt geht es schneller als gedacht.“ Mehr dazu lesen Sie bitte hier.

*

In Gottlieben wird das Wetter dem Namen gerecht. Es scheint jetzt die Sonne. „Zwei sich unsichtbar machende Frauen“ sind angekündigt: Clara von Bodman und Lisa della Casa. Die eine lebte bescheiden - und hörig - an der Seite des Dichters Emanuel von Bodman im heutigen Literaturhaus, die andere zurückgezogen im Schloss.

Das Gottlieber Literaturhaus im Sonnenschein. Bild: Brigitta Hochuli

 

Annette Hug, bis vor kurzem Co-Programmleiterin im Bodmanhaus, erzählt von Clara, die 1982 starb und eine Biografie ihres Gatten verfasst hatte. Das Haus hat Clara als Puppenstube nachgebaut. „Wenn man sich oft hier bewegt, kommt man sich manchmal vor wie darin gefangen“, meint Annette Hug. Corinne Holtz, Musikerin, Musikwissenschaftlerin und Autorin, würdigt die weltberühmte Opernsängerin, die im Schloss am Seerhein „ein Märchen ohne Schatten“ gelebt habe. Und sie erzählte vom „strategischen Umgang“ der „unsichtbaren“ Diva mit ihrer Stimme. Bei Richard Strauss habe sie das Lautmaterial zu absoluter Schönheit verarbeitet, auch wenn die Diktion nicht über alles erhaben gewesen sei. Das Publikum lauscht dieser Schönheit versunken und dankbar.

 

 

Wir beenden in Gottlieben unsere Blustfahrt und übergeben das Berichten an Sascha Erni (siehe Bildstrecke). Auf der Reiseroute geht‘s weiter ins Paradies bei Schlatt. Das ehemalige Klarissen-Kloster ist seit 1918 im Besitz der Georg Fischer AG; sie hat hier 1944 eine Eisenbibliothek eingerichtet. Wissenschaftlicher Bibliothekar ist seit 2013 Florian Ruhland. Den Kern dieser Spezialbibliothek bildet gemäss Homepage die Literatur zur Geschichte von Eisen und Stahl mit gegen 45‘000 Büchern und 800 Zeitschriften. Trotz schöner Ausstellung hat die Eisenbibliothek kaum Laufpublikum. Dem will man im Juni mit einem Tag der offenen Tür entgegenwirken.

Wer von den Reisenden durchhielt bis zuletzt, hat sich den sehr späten Ausklang im Restaurant Paradies mehr als verdient. Es war ein fröhlicher, geselliger, lehrreicher, anstrengender Tag.

 

***

Erste Blusfahrt 2015: Starke Blustgeschichten von Barbara Fatzer

 

KOMMENTAR *

 

von Sascha Erni, rb・vor einem Jahr

 

Das war also die zweite Blustfahrt der Kulturstiftung Thurgau – und meine erste überhaupt. So alt das Prinzip der Maifahrt auch sein mag, Klaus Hersche und Stefan Keller haben es gekonnt unserer Zeit angepasst und zu etwas ganz Besonderem gemacht. Die Blustfahrt zeigte auch alteingesessenen Thurgauerinnen und Thurgauern (und den ganzen Auswärtigen wie mir erst recht), dass der Kanton viel mehr zu bieten hat als „die Schweiz, nur ohne Berge".

 

Vielleicht sollte Thurgau Tourismus bei einer nächsten Blustfahrt mitmachen? Wäre sicher nicht verkehrt. Ich war sicher nicht der Einzige, der noch nie von einer Eisenbibliothek gehört oder das Bruderloch von Nahem gesehen hatte.

 

Die Expertinnen und Experten, Vortragende und Spezialisten waren durchs Band weg kompetent, offen, freundlich – und sehr unterhaltsam. Wenn ich an der Blustfahrt 2016 etwas bemängeln würde, dann höchstens: Es war etwas viel für einen Tag. Zusammen mit den Car-Fahrten wurde es zeitlich eng; man fühlte sich sowohl in der Mittagspause als auch besonders beim abschliessenden Abendessen unter Zeitdruck, konnte nur schwer das Erfahrene (und das Essen) verdauen.

 

Eine Station weniger wäre für eine etwaige Blustfahrt 2017 zu bedenken – oder aber, das Dinner am Ausgangspunkt zu veranstalten. So, dass diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die am nächsten Morgen zur Arbeit müssen, nicht sonntagnächtlich an ÖV-Haltestellen stranden. Und diejenigen, die gerne noch etwas gemeinsam „verhängen" möchten, sich nicht zur Abreise genötigt fühlen müssen.

 

 

* Seit März 2017 haben wir eine neue Kommentarfunktion. Die alten Kommentare aus DISQUS wurden manuell eingefügt. Bei Fragen dazu melden Sie sich bitte bei sarah.luehty@thurgaukultur.ch

 

 

 

 

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