von Brigitta Hochuli, 29.06.2018
Rätsel gelöst: So alt ist der Kunstraum Kreuzlingen
Seit wann gibt es eigentlich den Kunstraum Kreuzlingen? Nach unserem Interview mit Kurator Richard Tisserand blieb diese simple Frage offen. Niemand wusste es spontan, und das Internet gab keine Informationen her. Kein Wunder, geht doch die Geschichte des Kunstraums bis ins Jahr 1986 und früher zurück!
Was also hilft bei der Recherche? Menschen, die bereit sind nachzudenken, in ihrem Keller in Privatarchiven zu kramen, und Bundesordner voll mit maschinen- oder handgeschriebenen Protokollen und Notizen. An der Suche beteiligt haben sich:
✘ Christian Witzig, Architekt und Kreuzlinger SP-Stadtrat von 1991 bis 1999
✘ Kurt Schmid, Kunstsachverständiger, ehemaliges Vorstandsmitglied der Thurgauischen Kunstgesellschaft und ehemaliger Dozent der Pädagogischen Hochschule Thurgau
✘ Hans Jörg Höhener, Präsident der Thurgauischen Kunstgesellschaft von 1991 bis 2003
✘ Karl Studer, seit 2007 Präsident der Thurgauischen Kunstgesellschaft
✘ Urs Lang, Sammler von Fotos und Ansichtskarten sowie Verwalter der Facebook-Seite Alt Kreuzlingen
✘ Alex Bänninger, Präsident der Thurgauischen Kunstgesellschaft von 2003 bis 2007, und natürlich
✘ Richard Tisserand, Künstler und Kurator des Kunstraums an der Bodanstrasse 7a seit 2002.
Die Eckdaten in Kürze
- 1984: Ausstellung Kunstgrenze Bellevue
- 1986: Eröffnung Galerie Kunstraum Kreuzlingen an der Brückenstrasse
- 1991: Ende Ausstellungstätigkeit Christian Witzig/Thomas Onken an der Brückenstrasse
- 1993: Thurgauische Kunstgesellschaft übernimmt Mietvertrag Brückenstrasse und das Kuratieren
- 1997: Kunstgesellschaft mietet Kunstraum im Schiesser-Areal und baut um
- 2005: Richard Tisserand kuratiert als Festangestellter seine erste Aussstellung
- 2008: Kauf des Schiesser-Areals durch die Stadt Kreuzlingen, Eröffnung Tiefparterre des Kunstraums
- 2009: 75 Jahre Thurgauische Kunstgesellschaft
1984: „Kunstgrenze“ Bellevue
Die eigene Erinnerung im Zusammenhang mit zeitgenössischer Kunst in Kreuzlingen geht unter anderem auf 1984 zurück, als im vier Jahre zuvor geschlossenen psychiatrischen Sanatorium Bellevue der Gross-Event „Kunstgrenze“ stieg. Vom 26. Mai bis 23. Juni belebte ein Hauch von avantgardistischer Extravaganz ein letztes Mal die leergeräumten Villen und den Park. Gemäss einer Rückschau der Kreuzlinger Nachrichten aus dem Jahr 2017 wurden dort 40 Veranstaltungen organisiert. Beteiligt waren 70 Künstlerinnen und Künster. Eine weitere Quelle ist die Ausschreibung zu einem Projekt der Kunstkommission Kreuzlingen im Jahr 2016, in der sich Christian Witzig unter dem Titel Entdeckung des Stadtraums mit der „Bellevue-Idee“ auseinandersetzt, die schliesslich zu rund 10‘000 Besuchern der „Kunstgrenze“ geführt hatte.
1985: Volksabstimmung negativ
Ziel der künstlerischen Wiederbelebung war die Erhaltung des Bellevue-Areals für die Bevölkerung gewesen. In einer Volksabstimmung am 24./25. August 1985 wurde der Kauf jedoch abgelehnt.
1986: Galerie Kunstraum Kreuzlingen
Nach dem Ende der Ausstellung Kunstgrenze „trat bei einigen Mitgliedern des Organisationskomitees eine gewisse Leere in Sachen bildender Kunst ein“, schreibt Christian Witzig im oben erwähnten Dokument. Man habe darüber nachgedacht, wie der Schwung, der durch diese Ausstellung nach Kreuzlingen gekommen sei, weiter lebendig gemacht werden könne. So sei die Idee einer Galerie für junge Schweizer Künstler entstanden.
Nach langem Suchen wurde dann am 1. April 1986 in der Nähe des „Bellevues“ an der Brückenstrasse 14 die Galerie Kunstraum Kreuzlingen eröffnet. Der dazugehörende Schaukasten steht noch heute am Gartentor (siehe Bild ganz oben). Mit von der Partie war der im Jahr 2000 verstorbene kunstsinnige Thomas Onken, der 1987 bis 1999 der erste sozialdemokratische Ständerat des Thurgaus gewesen war. Das Haus hat einen Anbau. Es sei früher ein Restaurant mit einem kleinen Säli gewesen, erinnert sich Witzig. Tatsächlich hiess die Location bis etwa 1900 Zum Weissen Bären im „süssen Winkel“, später dann Krone. Um 1970 sei dann vor der Südfassade ein Sodbrunnen gefunden worden, berichtet Kreuzlingen- Kenner Urs Lang auf Anfrage.
1991: Ende der Ausstellungstätigkeit durch Witzig und Onken
Christian Witzig hat in seinem privaten Keller nach Dokumenten gesucht und die Ausstelllungen zusammengestellt, die er und Thomas Onken organisiert hatten. An der ersten Vernissage 1986 zeigte Christoph Herzog aus Zürich Objekte und Bilder. Es folgten bis Ende 1991 28 weitere Ausstellungen. In den letzten beiden Jahren ihrer Galeristentätigkeit liessen sich Witzig und Onken von Gastkurator Peter Bläuler aus Basel vertreten. Als „wegweisend“ und für ihn persönlich wichtig bezeichnet Witzig unter anderen Alex Hanimann, Flavio Paolucci, Peter Kamm, Felix Stephan Huber, Josef Felix Müller, aber auch Ciarenza/Hauser. 1988 hatte zudem der Thurgauer Kulturpreisträger 2016 Chistoph Rütimann zusammen mit Markus Döbeli Zeichnungen und Malerei gezeigt.
1993: Übernahme durch Kunstgesellschaft
Eine Galerie auf so hohem Niveau zu führen, wie es Witzig und Onken getan hatten, zehrt an den Kräften. Zudem war Onken 1987 in den Ständerat gewählt worden, Witzig 1991 in den Kreuzlinger Stadtrat. „Wir hatten nicht mehr die nötige Kraft und Zeit“, sagt Witzig. „Schliessen wollten wir die Galerie aber lieber nicht.“ So führten dann Gespräche mit dem damaligen Präsidenten der Thurgauischen Kunstgesellschaft, Teddy Egloff, zur Weiterführung der Galerie unter dem bisherigen Namen durch die Kunstgesellschaft. Christian Witzig schätzt, dass der Übergabetermin 1994/95 gewesen sein müsse. Genau weiss er es aus dem Gedächtnis nicht.
Zahlreiche Ordner in der Teeküche des Kunstraums harren einer systematischen Sichtung. Bild: Brigitta Hochuli
Richard Tisserand, der heutige Kurator des Kunstraums (an der Bodanstrasse), hütet zum Glück nicht nur Kunst, sondern auch ein paar Regale voller Bundesordner mit Protokollen, Vereinbarungen und Programmen der neueren Jahre der heute 84 Jahre alten Thurgauischen Kunstgesellschaft. Systematisch gesichtet worden ist das Material bisher nur von Karl Vogel für die ersten 50 Jahre. Für das 75-Jahr-Jubiläum 2009 wurde keine Chronik erstellt. Sich dieser Aufgabe anzunehmen, plant der heutige Präsident Karl Studer jedoch für den kommenden Winter. An einem Nachmittag im Kunstraum fanden wir in den Ordnern schon mal ein paar Eckdaten. „Ich habe den Eindruck, dass hier ein Stück Kreuzlinger Kulturgeschichte sichtbar wird“, fand Tisserand beim Blättern des teilweise vergilbten Papiers.
Bis Ende April 1992 war der Kunstraum an der Brückenstrasse Residenz des Künstlers Roland Dostal. Im Protokoll der Sitzung vom 1. Juli 1993 ist die Ablösung des Mietvertrags mit Witzig/Onken dokumentiert. Die Monatsmiete betrug 550 Franken.
Kurt Schmid, damals Vorstandsmitglied der Kunstgesellschaft, erzählt, er habe danach während zwei Jahren das Programm an der Brückenstrasse weitergeführt. Er war es auch, der den Umzug ins Schiesserareal an der Bodanstrasse und eine Kuratorenlösung mit Arbeits-Entschädigung vorschlug, die dann „ihrerseits schrittweise zum heutigen Stand entwickelt wurde“. Auf jeden Fall war die Ausstellungstätigkeit rege. Einem Protokoll von Ende 1995 ist beispielsweise zu entnehmen, dass die 14. Ausstellung stattgefunden habe, seit die Kunstgesellschaft den Kunstraum übernommen hatte. 1994 sei ein Jahr der Duo-Ausstelllungen gewesen.
1997: Mietbeginn an der Bodanstrasse 7a
Per 1. April 1997 hatte der damalige Präsident der Thurgauischen Kunstgesellschaft, Hans Jörg Höhener, mit der Hesta Immobilien AG einen Mietvertrag über die Nutzung von 300 Quadratmetern Gewerberaum in der Liegenschaft Schiesser-Areal, Hafenstrasse8/Bodanstrasse 7a, unterschrieben. Der MIetzins betrug gemäss Mietvertrag monatlich inklusive Heiz- und Betriebskosten 2773 Franken. Renovierung und Einbau einer Teeküche kosteten gemäss einer Abrechnung vom 24. März 1997 150 000 Franken. Im Jahr 2008 ging das Gebäude dann ins Eigentum der Stadt Kreuzlingen über. In diesem Jahr wurde im Kunstraum auch das Tiefparterre eröffnet.
In der Teeküche des Kunstraums: 1997, ein Schicksalsjahr der Kunstgesellschaft. Da könnte man ruhig mal darauf anstossen! Bild: Brigitta Hochuli
Nach Übernahme des Kunstraums durch die Kunstgesellschaft habe ein Ausschuss des Vorstandes alle Ausstellungen selbst kuratiert, berichtet Hans Jörg Höhener. „Dann haben wir Externe für einzelne Ausstellungen beigezogen, zum Beispiel Andrea Hoffmann aus Konstanz.“ Später seien dann am neuen Standort auch ganze Programm-Reihen an Externe vergeben, zum Beispiel an Dorothea Strauss.
2002: Richard Tisserand kommt zum Ausstellerteam
Richard Tisserand ist im Jahr 2002 zum fünfköpfigen Ausstellerteam des Kunstraums gestossen. Es habe aus Vertretern der Kunstgesellschaft und einem geladenen Künstler bestanden. Selber Künstler, war es Tisserand ein Anliegen, „den Umgang mit den Kunstschaffenden zu verbessern“. Das habe auch dazu geführt, auf eine „persönliche Kuratierung“ hinzusteuern.
2005: Erste von Tisserand kuratierte Ausstellung
Seine erste Ausstellung habe er 2005 mit Christine Streuli gemacht, so Tisserand. „Heute ich bin als Kurator quasi Angestellter der Kunstgesellschaft und habe ein eigenes Budget und eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton zu beachten. Das Ganze ist ein sehr komplexes Gebilde, das mit einem Minimalaufwand betrieben wird, damit das vorhandene Geld möglichst zur Kunst gehen kann.“
In den Jahren 2003 bis 2007 war Alex Bänninger Präsident der Kunstgesellschaft. In dieser Zeit habe er für den Kunstraum eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton erwirkt, berichtet er. Die künftig 120 000 Franken pro Jahr hätten das honorierte Teilzeitmandat von Richard Tisserand als Kurator erlaubt. „Ich unterstützte ihn sehr in der Verwirklichung seines Plans, auch das Untergeschoss des Kunstraums für Ausstellungen nutzen zu können.“
Heute, von 2016 bis 2018, enthält die Leistungsvereinbarung jährlich 150 000 Franken. Weitere Beiträge von Stiftungen und der Stadt Kreuzlingen kommen hinzu. Die Kunstgesellschaft gibt eine Defizitgarantie. Seit fünf Jahren verfügt der Kurator zudem über einen zusätzlichen Büroplatz. Nach Aussage von Richard Tisserand betragen die Gesamtausgaben zurzeit ungefähr 210 000 Franken jährlich.
Diverse Jubiläen
Unser Bild mit den Unterlagen des Jahres 1997 zeigt unter anderem eine Weinflasche. Zu feiern gibt‘s und gäbe es im Kunstraum Kreuzlingen tatsächlich viel. Kurator und Kunstgesellschaft liessen jedoch einige Jubiläen verstreichen. Den Kunstraum gibt es de facto seit über 30 Jahren. Am 1. April 2018 wären es genau 32 Jahre gewesen. Im Schiesserareal ist er seit über 20 Jahren heimisch. Seit 25 Jahren wird er von der Thurgauischen Kunstgesellschaft betrieben. Richard Tisserand hätte als fest angestellter Kurator ebenfalls einen runden Geburtstag feiern können. Doch er sagt: „Ich habe das Jubiläum extra verpasst, zurückschauen können Museen, Vereine oder Galerien, die alle zehn Jahre das Bedürfnis haben, sich beglückwünschen zu müssen. Mir aber geht es nur um die Künstler.“
Neue alte Wunschvorstellungen
In einem aktuellen Interview spricht der Kunstraum-Kurator Richard Tisserand von der wünschenswerten Zusammenarbeit mit der Nachbarstadt Konstanz. Wie ein Blick in alte Protokolle zeigt, ist dieses Ansinnen aber alles andere als neu. So heisst es in einer Projekteingabe zum Kunstraum vom 11. Januar 1997:
„Der ,neue‘ Kunstraum: Im Kunstraum konnte seit vier Jahren die Aufbauarbeit für ein Forum zu einem erfolgreichen Resultat geführt werden. Ausstellungen, Installationen, Referate und Diskussionen haben ein breites Stammpublikum gefunden, das oft auch aus dem grenznahen Ausland stammt. Für die regionale Kunstszene strahlt der Kunstraum weit über die Region aus. Er hat damit eine Rolle, die das Wirken des kantonalen Kunstmuseums ideal ergänzt. (...) Die Grenzlage (nach Prüfung Frauenfeld oder Gottlieben) hat sich als Vorteil erwiesen, da der kulturelle Austausch über die Landesgrenze für Künstler und Publikum interessant ist und noch Entwicklungsmöglichkeiten bietet.“ (Projekteingabe 11. Januar 1997)
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