von Sharon Rieser, 04.04.2022
Was, wenn diese Steine reden könnten?
Die Ruine Anwil fasziniert mit ihrer zeitlosen Präsenz. Heute kennen wir sie als attraktives Ausflugsziel, doch welchem Zweck diente sie all die Jahre zuvor? Eine multimediale Reise in die Vergangenheit. (Lesedauer: ca. 8 Minuten)
Buhwil im Jahr 1615: In naher Ferne plätschert der Bach, Vögel zwitschern und die Sonne taucht den saftgrünen Burghügel in warmes Licht. Laurenz Kunkler betrachtet stolz das Ergebnis der letzten sieben Jahre Bauzeit*.
Als er den Turm 1608 samt Wald, Weiden, Nebengebäuden und Gerichtsbarkeit von Adam Tschudi gekauft hat, war er karg und schmucklos. Unpassend als Gerichtssitz des Niedergerichts Bleiken, dem Teile von Buhwil, Wäldi und dem Dorf Bleiken unterstehen.
Ein Gerichtsherr, Meister der Bäckerzunft, Ratsherr der Stadt St. Gallen und ehemaliger Obervogt von Bürglen verdient ein stattliches Heim. Zugegeben, mit dem Schloss Bürglen, in dem Laurenz während seiner Amtszeit von 1606 bis 1610 hauste, lässt sich das Anwesen Anwil nicht vergleichen. Dafür ist es hier über dem Dörfchen Buhwyl ruhig und idyllisch.
Video: 360° 3D-Modell der alten Burg
Wie als Bestätigung rascheln die Blätter der Reben, die den Hügel ringsum einkleiden, sachte im Wind. Laurenz schreitet andächtig um den Wohnturm herum. Den Treppenturm an der südöstlichen Ecke des Steinquaders anzubringen war eine gute Idee. Das schafft dem dreistöckigen Innenraum mehr Platz.
Im obersten Stock befindet sich der Gerichtssaal mit den vergrösserten Fenstern aus Butzenscheiben. Das Erdgeschoss wurde dank abgesenktem Boden zum neuen Keller. Gedeckt mit einem Tonnengewölbe ist es der ideale Lagerort für Vorräte. Damit es Weibratha und die Kinder in den restlichen Zimmern angenehm warm haben, hat Laurenz zudem einen neuen Ofen einsetzen lassen.
Jetzt am Nachmittag, schenkt die Sonne dem Turm ihre Wärme. Die Steine an der Westwand fühlen sich warm unter Laurenz Berührung an. Wie viele Sonnenuntergänge diese Steine wohl bezeugen können?
Zeitstrahl: Die wichtigsten Daten zur Geschichte der Ruine Anwil im Überblick
Die Anfänge von Anwil
Laurenz weiss nichts von der prähistorischen Keramik, die im Erdreich unter ihm schlummert. Erst 1984 erforschen Archäologen Anwils Vergangenheit und stossen auf sensationelle Fundstücke. Sie zeigen, dass bereits zur Bronzezeit (2200 – 800 v.Chr.) Menschen auf dem Burghügel siedelten.
Laut weiteren Zeugnissen wurde der Hauptturm aber erst um 1250 erbaut. Damals gehörte er Konstanzer Bischöfen, die über Buhwil als Gerichtsherren walteten. Das Dorf Buhwil selbst wurde 838 unter dem Namen Puabinwilare als Besitz des Abtes von St. Gallen erstmalig erwähnt.
Der ursprüngliche Wohnturm Anwil besass 2-3 Stockwerke. Östlich davon stand mindestens ein Nebengebäude mit steinernem Fundament. Den Beweis für deren Existenz lieferten 2016 Bodenradar-Scans.
Den Westteil des Burgareals umgab ein Graben, der wahrscheinlich von einem Wall oder einer Mauer begleitet war. An der südöstlichen Ecke fand man Überreste einer Filterzisterne, die als Brunnen fungierte, der das Regenwasser filterte.
Ein Kaufvertrag von 1387 erwähnt Anwil erstmals schriftlich. Darin verkaufte Katharina von Röta unter anderem Turm und Baumgarten an die Brüder von Sax. Die vielen Kleinfunde aus dieser Zeit verraten, dass die Burg damals fast ununterbrochen bewohnt war.
Dies änderte sich kurzzeitig durch die Appenzellerkriege im 15. Jahrhundert. Die Fehde zwischen Appenzeller Gemeinden und der Fürstabtei von St. Gallen führte zu Raub und Plünderung auf dem Gebiet der Fürstabtei, so auch in Thurgauer Gemeinden.
1406 verwüsteten und plünderten die Appenzeller Teile der Buhwiler Burg. Dabei zerstörten sie die Nebengebäude und schütteten die Filterzisterne zu, was die Wasserzufuhr unterbrach.
Doch Anwil erholte sich. Ab 1440 tauchte ein Hans von Roseneck als Vermieter in den Quellen auf. 1463 ging der Besitz über Hans von St. Johann an die Ritter Ludwig, Jakob und Ulrich von Helmsdorf. Fast 150 Jahre lang verblieb die Burg im Besitz der Helmsdorfer.
Sie herrschten als niedere Gerichtsherren über Burg und Teile von Buhwil und waren direkt dem Landvogt in Frauenfeld unterstellt. Ihre lange Herrschaft hat Spuren im Wappen von Buhwil hinterlassen.
1608 endete die Ära der Helmsdorfer. Hans Heinrich verkaufte die Burg und ihre Gerichtsherrschaft an Adam Tschudi. Dieser verschacherte sie wiederrum mit allem was dazu gehört an Laurenz Kunkler für 5100 Gulden (Goldwert heute: ca 826’ 000 Franken).
Zurück im Jahr 1615
Inzwischen sind sieben Jahre vergangen und die Burganlage ist frisch renoviert. Als Zeichen dafür, prangt auf dem Schlussstein am Treppenturmeingang frisch eingraviert die Jahreszahl 1615.
Es waren keine sorglosen sieben Jahre. 1608 bis 1610 sank die Temperatur, was zu drastischen Ernteausfällen führte. Die geschwächte Bevölkerung bot Krankheiten leichtes Spiel. 1611 schlug der schwarze Tod mit voller Wucht zu. Heutige Schätzungen vermuten, dass durch die Pest die Hälfte der Thurgauer Bevölkerung verstarb.
Laurenz dankt Gott dafür, dass er ihn und seine Familie verschonte. Doch noch für wie lange? 1617 beginnt seine zweite Amtszeit als Bürgler Obervogt. Bis diese 1621 endet, wohnt und regiert er erneut im Schloss Bürglen.
Danach bleiben ihm noch fünf Jahre auf Anwil, ehe er 1626 mit 68 Jahren stirbt. Seinen letzten Atemzug tut er auf dem geliebten Wohnturm. Er hinterlässt die 43-jährige Witwe Weibratha und 17 Kinder aus insgesamt vier Ehen. Es ist nicht bekannt, wer nach Laurenz’ Tod auf Anwil lebt.
1647 verkaufen Laurenz’ Erben das Anwesen samt allem, was dazu gehört, für 1755 Gulden an die Stadt St. Gallen. Diese vereint die Gerichtsherrschaft Anwils mit der Herrschaft Bürglen, was die unabhängigen Zeiten Anwils beendet.
1665 verkaufte die Stadt St. Gallen die Burg zu Buhwil an Adam Schmid als Erblehen. Nach Schmids Tod sechs Jahre später löste die Stadt dieses Erblehen für 1750 Gulden zurück.
Danach wohnte niemand mehr längerfristig im Turm. Er diente fortan als Keller und Lagerraum für die Landwirtschaft. Sein langsamer Zerfall beginnt.
Zeitsprung ins Jahr 1844: Der Besuch des Geschichtsforschers
Es ist ein trüber Tag im Oktober 1844 als August Naef den Burghügel erklimmt**. Im Rahmen seines Werkes über St. Galler Burgen, besucht er Ruinen in St. Gallen, Appenzell und Thurgau und dokumentiert ihren Zustand.
Der Himmel ist wolkenverhangen, was dem Anblick des steinernen Bauwerks vor ihm eine düstere Nuance verpasst. August holt sein ledernes Notizbuch hervor und skizziert den Burgstock als Vorlage zum späteren Reinzeichnen.
August hat sich mit dem Besitzer der Ruine, einem Wirt, dessen Beiz sich am Fusse des Burghügels gegenüber der Hintermühle befindet, verabredet. Die Führung beginnt im Keller.
Hinter der dicken Holztür geht es ein paar Stufen hinab in einen dunklen leeren Raum mit Tonnengewölbe. «Früher habe ich hier Waren und Geräte gelagert, doch vor einiger Zeit haben Taugenichtse versucht einzubrechen!», erzählt der Wirt verstimmt. Eine halsbrecherische Leiter führt durch eine Lucke zum ersten Stock, doch die beiden nehmen lieber die äussere Treppe, die sich im angebauten Türmchen befindet.
Bis zum ersten Stock sind die Stufen aus Stein, ehe sie oben von morschem Holz abgelöst werden. Im ersten und zweiten Stockwerk befindet sich je ein leeres Gemach, dessen Holzböden ebenfalls faule Stellen aufweisen. Die Witterung macht dem Turm zu schaffen. Erst ganz oben angekommen, machen August und der Wirt halt.
Das Wappen der Kunkler über dem Eingang
Hier geht die Wendeltreppe über einen Steinbogen in den Hauptsaal über. Das Wappen der Kunkler von St. Gallen mit den Initialen L. K. thront über dem Eingang. An jeder Wand bietet ein grosses Fenster weitschweifenden Ausblick. Selbst das Schloss Bürglen ist nördlich auszumachen.
Von oben zieht es mächtig, da der Turm nicht bedeckt ist. Der Wirt erklärt: «Vor ein paar Jahren zog ein fürchterlicher Sturm vorbei. In einer Nacht tobte es so heftig, dass das ganze Dach fortgerissen wurde. Damals habe ich den Turm mit zwei Bauern geteilt. Die wollten ihn daraufhin gar abreissen! Das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich die Anteile der zwei aufgekauft. Ein neues Dach war aber zu teuer, so habe ich den Boden hier mit Kalkguss ausgiessen lassen und den Treppenturm notdürftig selbst gedeckt.
An schönen Sonntagen kommen Leute aus der Nachbarschaft hierher, um die Aussicht zu geniessen.», schwärmt der Wirt.
Die teuren Kosten der Erhaltung
«So manch fröhliche Feste konnte ich hier oben bewirten. Doch seit geraumer Zeit schwindet der Besuch. Der Kalkguss beginnt sich aufzulösen, die Holzböden verfaulen und auch die Treppe wird morsch.», der Wirt seufzt, «Wahrscheinlich wär’s besser, wenn ich die Mauern bis auf den Keller einreisse und diesen dann neu decken lasse. Die Erhaltung des ganzen kostet mich einfach zu viel.»
Als die beiden über den Treppenturm hinuntersteigen, lässt August seine Hand am Stein entlangfahren. Wenn der Wirt sein Vorhaben umsetzt, wird er einer der letzten sein, der diesen Treppenturm besteigt.
Die Mauern bröckeln
Acht Jahre später wird der Treppenturm abgebrochen. Der Rest des Wohnturms zerfällt von allein. Auf der Zeichnung von H. Stähelin von 1875 ist der Keller unter dem Tonnengewölbe noch zu sehen, doch die oberen Stockwerke sind verschwunden.
Innerhalb der nächsten 20 Jahre fallen die Überreste des Treppenturmes und die Südfront des Wohnturmes gänzlich in sich zusammen. Den brachialen Zustand der Ruine dokumentiert der Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn schriftlich und bildlich um 1896. Der Geröllhaufen, der einmal ein hoher Turm war, wird Stück für Stück von Pflanzen überwuchert.
Der Zerfall in Bildern
Ab dem frühen 20. Jahrhundert beginnt die fotografische Dokumentation der Ruine:
Bilderstrecke:
Die steinerne Ruine verschmilzt mit der Natur. Grasteppich schiebt sich über das Geröll. Blätterranken bezwingen die Turmmauern. Einwohner und Nachbarn beschweren sich über den verwahrlosten Zustand. Der Grundbesitzer des Burghügels muss ständig Schutt und Trümmer von der angrenzenden Weide räumen.
1952 beauftragt die Gemeinde Willy Knoll Pläne für einen Umbau der Ruine zu entwerfen. Diese sollten sie in eine attraktive Freizeitattraktion verwandeln, doch umgesetzt werden sie nie.
Die Wiederentdeckung
Erst 1984 endet Anwils langer Schlaf. Das archäologische Amt des Kanton Thurgau startet eine grosse Sanierungsaktion. Dabei entfernen sie den Pflanzenbewuchs, räumen das Turminnere frei, transportieren die Schuttschichten ab, festigen das Mauerwerk und führen wissenschaftliche Forschungen durch.
Bei Grabungen bergen die Archäologen historische Schätze. Ihnen ist zu verdanken, dass wir so viel über die Vergangenheit der Ruine wissen.
Um die Überreste der Ruine weiterhin zu erhalten, folgen Sanierungen 2005 und 2016. Denn das Mauerwerk muss gesichert und der Pflanzenbewuchs regelmässig entfernt werden. Der einstige Wohnturm ist heute ein attraktives Ausflugziel mit einer gepflegten Grillstelle und weitläufiger Aussicht.
Vogelgesang, Windrauschen, Sonnenstrahlen und aufgeschichtete Steine. Der hohe Wohnturm konnte sich keine 800 Jahre halten, doch die Idylle rund um die Ruine Anwil währt fort.
Anmerkungen der Autorin:
* Die Szenen mit Laurenz Kunkler am Anfang des Textes sind nicht belegt. Sie dienen als stilistisches Mittel. Dennoch beruhen die biografischen Details rund um die historische Person Laurenz Kunkler, sowie die Angaben zum Wohnturm auf historischen Quellen. Die Szenerie als solche und Laurenz' Gedanken entspringen der Fantasie der Autorin.
** Die geschilderte Szene des Burgenbesuchs von 1844 basiert auf dem Bericht des Burgenforschers August Naef. Nachzulesen in seinem Werk: «Archiv für die Geschichte der St. Gallischen Burgen, Schlösser und Edelsitze, ihrer Besitzer und damit in Verbindung stehenden Ortschaften, im Umfang der Cantone St. Gallen, Appenzell und Thurgau…»
Die Autorin
Sharon Rieser hat 2020 ihre Bachelor-Arbeit über das Thema Mixed-Reality geschrieben. Darin hat die Thurgauerin untersucht, wie man archäologische Funde und historische Stätten digital noch besser erlebbar machen könnte. Rieser hat dazu nicht nur theoretisch geforscht, sondern anhand der Ruine Anwil ein eigenes Projekt realisiert. Einblicke darin gibt der Text oben mit dem 360-Grad-Modell. Ausführlicher schildert Sharon Rieser ihre Bachelorarbeit auf ihrer eigenen Website: https://sharie.ch/bachelor-arbeit-extended-reality/
Einen virtuellen Rundgang um die Burg hat sie dort ebenfalls erstellt: https://sharie.ch/RuineAnwilWeb/index.html Viele der im Text beschriebenen Informationen lassen sich dort direkt am Modell nachlesen. Die dafür benutzte Software funktioniert allerdings nur auf Desktop-Computern. Smartphones und Tablets werden bislang nicht unterstützt.
Benutzte Quellen für diesen Text
Auszug aus Bürgerverzeichnis (17 JH) zur Person Laurenz Kunkler (1585 – 1626)
Haberer, Carl Franz (1706), «Eydgnössisch-Schweytzerischer Regiments Ehren-Spiegel oder Kurtzer Entwurff der Regierung und Staats Ordnung hochlobl. 13 Kantonen mit verbündeten Orthen und Landvogtenen», Zug
Naef, August (1845), «Archiv Sankt-Gallischer Burgen und Edelsitze oder urkundliche, genealogische und heraldische Belege zur Geschichte der Sankt-Gallischen Burgen und ihrer Besitzer», St. Gallen Rahn, Johann Rudolf (1899), «Die mittelalterlichen Architektur- und Kunstdenkmäler des Cantons Thurgau», Frauenfeld
Knöpfli, Albert (1962), «Die Kunstdenkmäler des Kantons Thurgau Band 3: Der Bezirk Bischofszell», Basel
Menolfi, Ernest (1980), «Sanktgallische Untertanen im Thurgau - Eine sozialgesch. Unterstuchung über die Herrschaft Bürglen (TG) im 17. und 18. Jahrhundert», St. Gallen
Meier, Hans-Rudolf (1985), Semesterarbeit «Die Burgruine Anwil bei Buhwil TG Bericht über die Sondier Grabungen 1984»
Häberli, Christian: Bischofszell - Auf der Ruine Anwil wurden bronzezeitliche Funde gemacht. Trotz Adel ein einfaches Leben, in: Amriswiler Anzeiger (1985)
Reutimann, Hans (1988), «Von Puabinwilare zu Buhwil – Ein Dorf im Wandel der Zeit»
Von Sharon Rieser
Weitere Beiträge von Sharon Rieser
- Alte Ruine neu entdeckt (25.04.2022)
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