von Veronika Fischer, 05.11.2022
Wo sind denn all die Frauen?
Die Wikipedia ist das wichtigste Online-Lexikon. Frauen sind dort immer noch unterrepräsentiert. Als Protagonistinnen und als Autorinnen. Eine Initiative des Historischen Museum und der Kantonsbibliothek will das jetzt ändern. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
In den vergangenen Jahren haben sich die Möglichkeiten Wissen zu erlangen grundlegend verändert. Wenn ich mit Kindern über meine Kindheit spreche, kommt es mir teilweise vor, als würde ich von der Steinzeit berichten. Wir hatten keine Handys, wir hatten kein Internet, mein Lieblingsort war die lokale Bibliothek.
Dort haben wir einmal die Woche einen Nachmittag verbracht und einen Stapel Bücher mitgenommen, der in der kommenden Woche gelesen war. Später habe ich die Bibliotheken der Universitäten, an denen ich studierte, als Ort des Rückzugs und der Stille wertgeschätzt. Kilometerweise Wissen, konserviert auf Buchseiten, gestapelt in Regalen bis unters Dach.
Ein kollektives Gedächtnis
Heute nutze ich, wie vermutlich die meisten, den Wissenstransfer online. Im Schlafanzug, beim Kaffeekochen, am Schreibtisch, während gemeinsamer Gespräche, eigentlich überall und in jeder Situation ist es möglich schnell an Informationen zu gelangen.
Eine Seite, die ich dabei am meisten anklicke ist Wikipedia. Eigentlich könnte man diese Enzyklopädie auch als kollektives Gedächtnis ansehen, denn sie steht für alle offen. Einen Eintrag anlegen kann, wer schreiben kann und die vorgegebenen Kriterien einhält.
Grosser Gender-Gap auf Wikipedia
Ein Relevanzkriterium für noch lebende Personen klingt beispielsweise so (und ich zitiere an dieser Stelle Wikipedia direkt): „Autor, Herausgeber, Fotograf, Musiker, Maler, Bildhauer, Architekt, Ingenieur oder andere Person, deren Werk oder Arbeitsleistung als herausragend anerkannt und dauerhaft Teil der Geschichte des Fachgebiets geworden ist“
Schon an der Formulierung wird deutlich: Frauen sind hier gar nicht vorgesehen, die Sprachlichkeit beschränkt sich hier auf das reine Maskulinum, und Sprache prägt nun mal unsere Realität, siehe Wikipedia.
Die Inhalte sind sehr maskulin geprägt
Wer nutzt also diese Datenbank, wer konzipiert unser kollektives Informationszentrum? Die Antwort ist wenig überraschend: Männer. Eine Studie aus dem Jahr 2018 ergibt, dass 90 Prozent der Schreibenden Autoren sind, neun Prozent weiblich, ein Prozent divers. Und auch die Inhalte sind sehr maskulin ausgeprägt – auf jeden Artikel über eine Frau kommen fünf über einen Mann. Der Gender-Gap auf Wikipedia ist also enorm.
Dagegen gibt es einige Initiativen, nun auch hier ganz regional und vor Ort, im Thurgau: Das Historische Museum Thurgau und die Kantonsbibliothek Thurgau organisieren gemeinsam mit dem Kollektiv „Who writes his_tory?“ und der Historikerin Natalie Kolb Beck einen Workshop, der gegen diese Diskrepanz angehen soll.
Schreibworkshop für mehr Thurgauer Frauen auf Wikipedia
Am vergangenen Sonntag gab es einen sogenannten „Edit-a-thon“ in der Kantonsbibliothek in Frauenfeld. Hier trafen sich interessierte Personen, um die Thurgauer Frauen ins Netz zu bringen. Aber auch ausserhalb dieses Rahmens ist jede und jeder willkommen, sich an den Wikipedia-Einträgen zu beteiligen.
Im Workshop wurde das notwendige Know-How vermittelt, um einen Beitrag zu verfassen. Ausserdem sind bereits Informationen aus verschiedenen Archiven zusammengestellt worden und können gemeinsam online gebracht werden.
Care-Arbeit vs. Freiwilligenarbeit
Entstanden ist diese Idee aus den Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum für das Frauenwahlrecht im Jahr 2021, erzählen Joana Keller von der Kantonsbibliothek und Petra Hornung vom Historischen Museum Thurgau. Sie fasziniert an Wikipedia die basisdemokratische Grundhaltung sowie das zeit- und arbeitsintensive Engagement, das die Wikipedianer und Wikipedianerinnen an den Tag legen.
Es ist eine reine Freiwilligenarbeit und vielleicht liegt hier auch der Schlüssel zu der Frage, warum Frauen bislang unterrepräsentiert sind. Frauen leisten im Schnitt mehrere Stunden mehr Care-Arbeit am Tag als Männer. Damit ist ihr Pensum für Freiwilligenarbeit vermutlich bereits aufgebraucht.
Ein Ziel: Mutige Thurgauer Frauen vorstellen
Durch den Wikipedia-Schreibworkshop wird das Gedenken an Frauen, die im Thurgau politisch aktiv waren nachhaltig fortgeführt und einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Eine ämterübergreifende Zusammenarbeit der beiden genannten Institutionen mit der Historikerin Natalie Kolb sowie dem Kollektiv „Who writes his_tory?“ bringt Expertisen zusammen, die sich gemeinsam für eine feministische und diverse Perspektive auf Wikipedia einsetzen.
Beispielsweise wird die Biografie von Dora Labhart-Roeder (1897-1992) publik gemacht. Die Zürcherin erstritt sich 1923 vor dem Bundesgericht das Recht, als Anwältin tätig zu sein, was bis dahin nur Männern gestattet war.
Aufgrund dieses Urteils war sie die erste praktizierende Anwältin im Kanton Thurgau, führte mit ihrem Mann ein Advokaturbüro und war später ausserordentliche Jugendanwältin. Sie setzte sich in vielen Gremien für juristische Frauenanliegen ein und gilt als Verfasserin zahlreicher Vereinsstatuten.
Grosser Einsatz für das Frauenstimmrecht
Oder Ludmila Scheiwiler-von Schreyder (1888 – 1980). Sie engagierte sich für das Frauenstimm- und wahlrecht und wurde Initiantin des 1927 gegründeten Thurgauischen Verbandes für Frauenstimmrecht, für den sie sich über 40 Jahre lang, teils gegen vehementen Widerstand, als Geschäftsführerin und Präsidentin einsetzte. 1929 hielt sie Vorträge und sammelte an den Haustüren Unterschriften für die eidgenössische Petition zur Einführung des Frauenstimmrechtes.
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