von Veronika Fischer, 02.05.2019
Theatermensch
Jean Grädel hat über 200 Inszenierungen auf die Bühne gebracht, Theatergruppen gegründet, Theater geleitet. Er ist durch die ganze Welt gereist und doch seiner Heimat dem Thurgau immer treu geblieben. Seit über zehn Jahren ist er in Pension. Ein Grund, die Füsse hochzulegen? Noch lange nicht! Einer Schweizer Illustrierten hat er erst kürzlich eine Homestory abgesagt, in seinem Häuschen am See besprachen wir dann aber neben Theaterdingen doch Haustiere, die Liebe und das Gefühl der Einsamkeit.
Von seinem Schreibtisch aus blickt Jean Grädel durch das Fenster aufs Wasser. Es wirkt wie ein bewegtes Gemälde, Farbtöne und Lichter fliessen ineinander. Auf dem Fensterbrett stehen zwei gelbe Narzissen aus dem Garten, auf dem Tisch im Wohnzimmer ein Strauss Tulpen. Der Theaterregisseur wohnt hier mit seinen zwei Katzen Lola und Macho, die sich gemächlich räkeln. An allen Wänden sind Regale mit Büchern. Die gesammelten Werke von Berthold Brecht ebenso wie „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq oder „Momo“ von Michael Ende.
Auf einem Tisch liegen Bildbände über Indianer. Gerade arbeitet Grädel an einer Freiluftinszenierung von Karl May in Engelberg: Winnetou und der Ölprinz. „Indianer interessieren mich schon lange“, sagt er, „die indigenen Naturvölker faszinieren mich mit ihren Lebensweisen. Als Jugendlicher war ich entsetzt über den Völkermord, der dort stattgefunden hat und habe mir geschworen, niemals nach Amerika zu reisen.“ Er war dann doch dort. Boston, New York, San Francisco. Seine Frau Eveline war Flugbegleiterin und Grädel begleitete sie oft bei ihrer Arbeit. Die ganze Welt hat er so gesehen, von Hong Kong bis Südafrika. „In Europa kenne ich alle Bahnhöfe der grossen Städte, da fahre ich Zug“, so erzählt der gebürtige Thurgauer. Er beobachtet die Fridays-for-Future-Bewegung und findet es toll, wie die Schülerinnen und Schüler sich engagieren.
«Wenn man gesellschaftlich Wirksames machen will, muss man mit Kindern und Jugendlichen anfangen.»
Jean Grädel über sein Engagement fürs Kinder- und Jugendtheater (Bild: Thomas Meier)
Lange hat Grädel Theater für Kinder und Jugendliche gemacht. In Baden hatte er die freien Gruppen „die claque“ und „Spatz & Co“ gegründet und geleitet, das Sexualaufklärungsstück „Do drüber red mer nöd“ hat er 180 Mal gespielt. „Wenn man gesellschaftlich Wirksames machen will, muss man mit Kindern und Jugendlichen anfangen“, so ist Grädel überzeugt. Seit er mit 64 Jahren in Pension ging, arbeitet er freiberuflich und macht nur noch Theater für Erwachsene. „So kann ich mir aussuchen was ich machen will, es muss Spass machen und Sinn haben“, sagt der Regisseur, der im vergangenen Sommer seinen 75. Geburtstag feierte. Er arbeitet immer noch einhundert Prozent: „Seit ich zum ersten Mal ins Theater gegangen bin, komme ich da nicht mehr raus.“ Aktuell stehen drei Projekte auf seinem Spielplan.
Neben den Karl-May-Festspielen beschäftigt Grädel derzeit ein Projekt zusammen mit Paul Steinmann über Kapuzinermönche im Appenzell. „Die Inszenierung ist nicht ganz einfach“, so Grädel, „da wir in einem Kloster spielen, diktiert das Gebäude unsere Rituale und es besteht die Gefahr der Statik, der wir entgegenwirken müssen.“ Auch in den Katholizismus musste er sich einarbeiten, aber er ist überzeugt: „Auch Kapuzinermönche können Humor haben!“ Das dritte Projekt, an dem Grädel derzeit arbeitet, ist ein Zweipersonenstück am Phönix Theater. „Das Casting meines Lebens“ ist ein Text, der schon vor sieben Jahren entstanden ist und zeigt sich jetzt noch immer aktuell, passend zur #metoo-Debatte. Die Schauspieler Lilly Friedrich und Domenico Peccoraio kennt Grädel schon Jahrzehnte. „Schauspielern, mit denen ich gerne arbeite, bleibe ich treu“, sagt er.
«Beckett und Shakespeare sind für mich die Dichter mit dem höchsten Anspruch. Aber ich kann auch zu einer Karl-May-Inszenierung stehen.»
Jean Grädel, Regisseur
Aus seiner eigenen beruflichen Erfahrung kann er von zahlreichen zwischenmenschlichen Konflikten berichten. Affären, Trennungen und Seitensprünge kommen vor, auch im Theater. „Vor allem im Laientheater ist es für viele eine neue Erfahrung sich zu öffnen, körperlich zu sein und etwas von sich zu zeigen. Da kommt dann oft eine Nähe auf, die verwechselt wird,“ erzählt Grädel. Er selbst ist professionell geblieben.
Seine Frau Eveline Merz, die vor vier Jahren verstarb, hat er zum ersten Mal bei einem Casting gesehen. Die Tochter einer Zirkusfamilie war Balletttänzerin und Pferdedompteurin und hat das Herz Grädels im Nu erobert: „Ich wusste sofort: Das ist meine Frau! Es hat dann aber noch ein halbes Jahr gedauert, bis ich sie auch davon überzeugen konnte…“ Gemeinsam hatten sie ein Gestüt mit Rennpferden. Vor der Theaterarbeit ging Grädel morgens um fünf Uhr erst zum Boxen ausmisten, dann reiten. Seit dem Tod seiner Frau lebt er nun in Landschlacht im „Haus am Meer“, wie er sagt. Hier will er nicht mehr weg. Er fühle sich auch nicht allein, da er im Theater immer mit Menschen zusammen ist, sagt er. Nur wenn er abends nach Hause kommt, vermisse er eine Partnerin. „Drum brauch ich die Katzen. Sie sind immer da, wenn ich heim komme. Wenn ich woanders inszeniere, nehme ich sie mit.“
Sein „Haus am Meer“ will er nicht mehr verlassen
Eine befreundete Schauspielerin aus Berlin hatte kürzlich eine Idee. Heimlich hat sie ein Profil bei Elitepartner erstellt und Grädel die Ergebnisse präsentiert. „Aber das ist nichts für mich“, sagt er lachend und ergänzt: „Ich bin sowieso viel zu anstrengend für eine Frau in meinem Alter…“
Gut, da muss man auch erst einmal mithalten. Sobald der See eine Temperatur von 16 Grad erreicht hat, geht Grädel schwimmen, ansonsten rudert er und nachdem seine zwei neuen Hüftgelenke problemlos sitzen, will er wieder anfangen zu reiten. Im Sommer chartert er Segelboote und verbringt dort die Abende mit Freunden und gutem Essen in den Buchten der Bodenseekaribik. Immer gerne unternimmt er etwas mit seinen vier Enkelkindern. Und in der restlichen Zeit ist er eben irgendwo in einem Theater. Nach „Ruhestand“ klingt das nicht…
Video: Trailer zu Winnetou und der Ölprinz
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