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von Inka Grabowsky, 02.04.2016

"Wilhelm Tell in Manila"

Autorin Annette Hund und Moderatorin Kathrin Zellweger (v.l.) im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben | © Inka Grabowsky

Im Dezember erst hatte sie ihr Amt als Ko-Kuratorin des Bodmanhauses aufgegeben. Nun stellte Annette Hug als Autorin in Gottlieben ihren neuen Roman vor und liess sich von ihrer Nachfolgerin Kathrin Zellweger interviewen.

Inka Grabowsky

In alter Verbundenheit wählte Annette Hug das kleine Bodmanhaus zum Schauplatz ihrer Buch-Vernissage. Zum ersten Mal vor Publikum las sie aus ihren neuen Werk, an dem sie drei Jahre lang geschrieben hatte.

In Schiller neue Aspekte entdeckt

„Wilhelm Tell in Manila“ ist nach „Lady Berta“ 2008 und „In Zelenys Zimmer“ 2010 der dritte Roman der Historikerin. Die Geschichte lebt dieses Mal besonders von persönlichen Erlebnissen, denn die heute 46-jährige Annette Hug hatte vor 22 Jahren an der University of Manila einen Master in „Women and Development Studies“ gemacht. Drei Jahre lebte sie dafür in der Hauptstadt der Philippinen, und auch wenn das Studium auf Englisch ablief, eignete sie sich genug der philippinischen Sprache Tagalog an, um den Alltag zu bestehen.

Damals nahm sie erstaunt zur Kenntnis, dass der philippinische Nationalheld José Rizal in seinem Exil in Deutschland Schillers „Wilhelm Tell“ ins Tagalog übersetzt hatte. „Diese Arbeit schuf einen Anknüpfungspunkt zwischen meiner Heimat und den Philippinen, die mich zum Nachforschen anregte“, erklärte sie am Rande der Lesung im Gottlieber Bodmanhaus. „Rizal ist auf den Philippinen ähnlich allgegenwärtig wie bei uns Schillers Tell - entsprechend waren meine philippinischen Freunde verwundert, dass ich ihn plötzlich so faszinierend fand. Aber ich habe durch ihn auch in Schiller ganz neue Aspekte entdeckt.“

Ringen um jedes Wort

Der Mediziner Rizal kam 1886 nach Stationen in Madrid und Paris nach Heidelberg, um sich als Augenarzt zu spezialisieren. Neben der Weiterbildung veröffentlichte er politische Artikel und Romane, die die Verhältnisse in seinem Heimatland kritisierten. Sie unterstützten somit die Revolutionäre, die eine Unabhängigkeit der Philippinen von der Kolonialmacht Spanien forderten. Rizals Werke wurden verboten, der Student wurde zum Exilanten.

In dieser Situation entschliesst er sich, die Werke der europäischen Aufklärer als Werkzeug gegen die europäischen Unterdrücker einzusetzen. Doch die Übersetzung ist alles andere als leicht. Ähnlich wie Doktor Faust bei seiner Bibelübersetzung ringt er um jedes einzelne Wort. Anders als Faust befindet er sich jedoch in der Fremde, er muss tief in seine Erinnerungen eindringen, um die richtigen Formulierungen zu finden. Sein „Tell“ ist deshalb keine Übersetzung, sondern vielmehr eine Nachdichtung. Der Vierwaldstätter See wird zum Meer, die Alpen werden zu Vulkanen. Gleich bleibt das Grundthema: eine fremde Macht beansprucht aus Profitgier einen neuen Handelsweg für sich. Wie viel Gewalt darf ein unterdrücktes Volk anwenden, um sich zu wehren?

Ans Herz gewachsen

Um zu verstehen, was José Rizal motivierte, las Annette Hug alle seine Werke. „Insbesondere seine satirischen Essays haben mich für ihn eingenommen“, sagt sie. „Er ist mir im Laufe der Zeit so ans Herz gewachsen, dass ich ihn in meinem Buch eigentlich nicht sterben lassen wollte. Es liess sich dann aber doch nicht vermeiden.“ Immerhin gönnt Hug ihrem Helden einen alternativen Lebensentwurf. Während der echte Rizal sich immer für sein Land opfern wollte und - wie Hug meint - sicher geschmeichelt gewesen wäre, wenn man ihn als philippinisches Alter Ego von Schiller gesehen hätte, malt sich die literarische Figur ein glückliches Leben als Romancier in Paris aus. „Ich habe eben nicht wirklich einen historischen Roman geschrieben“, so die Autorin. „Mir ging es eher um die Herausforderungen der Übersetzung und die Beziehungen zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturkreisen.“

***

Wilhelm Tell in Manila“ ist bei Wunderhorn erschienen und kostet rund 22 Franken in gebundener Fassung, 16.99 Euro als E-Book.

 

Was bleibt...*

„Wilhelm Tell in Manila“ ist nach Schillers Version und dem unverzichtbaren „Wilhelm Tell für die Schule“ von Max Frisch eine weitere Diskussion der Frage nach dem legitimen Attentat. Das Thema hat über die Jahrhunderte nichts von seiner Aktualität verloren. Der unterhaltsame Roman schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen lernt man tatsächlich etwas über die Geschichte der Philippinen und die Untaten der spanischen Kolonialherren, zum anderen regt er zum Nachdenken über die eigene und fremde Kulturen an. Der Flüchtling kommt in das Deutschland der Jahrhundertwende und beschreibt die seltsamen Sitten der Studentenverbindungen. Einige Seiten später beschreibt ein Europäer die seltsamen Sitten der Eingeborenen in Südostasien. Befremdlich ist beides - und gleichzeitig gibt es bei Annette Hug global geltende Ideale. Übersetzen wird in dieser Welt zu einer völkerverbindenden Kunst. (inka)

 

*In unserer neuen Reihe "Was bleibt..." sammeln wir Eindrücke, Lehren, Gedankenschätze und auch kritische Beobachtungen, die unsere KorrespontentInnen von den Veranstaltungen zurück mit in die Redaktion bringen.
Sie waren auch dabei und hatten einen ganz anderen Eindruck? Lassen Sie es uns wissen! Hier in den Kommentaren oder per E-Mail oder Kommentar auf Facebook und Twitter. Wir freuen uns! (red)

 

 

 

 

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