von Inka Grabowsky, 07.10.2024
Auf den Spuren des Verbrechens
«Galgenholz» Menschen gehängt, gerädert, geköpft und verbrannt. Alle Hinrichtungen, die im Kanton Thurgau vollzogen wurden, fanden hier, auf dem heutigen Fussballplatz direkt neben der ehemaligen Römerstrasse, statt. Der Fotograf Roland Iselin hat verschiedene Orte des Verbrechens für ein neues Buchprojekt aufgesucht. | © Roland Iselin
Bis 1854 wurden Menschen im Thurgau auf öffentlichen Plätzen vor grossem Publikum enthauptet. Nicht immer ging es dabei mit rechten Dingen zu. Die Germanistin Romy Günthart hat die ganze Geschichte dazu recherchiert. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Die Widersprüche des 19. Jahrhunderts haben Romy Günthart wundergenommen. Von der «Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem» spricht die Wissenschaftlerin: «Die Kantonsschule wird gegründet, die Eisenbahnlinie gebaut, es gibt eine Telegrafenlinie zwischen Winterthur und St. Gallen: Allenthalben sieht man Fortschritt und Aufbruch. Dann wird ein Mensch zum Tode verurteilt, und im Hinrichtungsritual sieht man, wie das Mittelalter in die Gegenwart hineinreicht.»
Hier setzte das Interesse der habilitierten Germanistin und Mediävistin ein. «Die Germanistik hat sich in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert genau damit befasst: mit der Literatur des Mittelalters, mit Jahrhunderte alter mündlicher Überlieferung. Kurz: mit den Spuren des Mittelalters in der Gegenwart.» Als Romy Günthart dann noch im Nachlass eines Fachkollegen eine umfangreiche Sammlung von Predigtliteratur untersuchte und dabei auf sogenannte Standreden stiess, war ihr wissenschaftliches Interesse endgültig geweckt.
Standreden wurden von einem Geistlichen unmittelbar nach einer Hinrichtung vom Schafott herab gehalten. Er blickte dabei auf das Leben des «armen Sünders» zurück und redete den Zuschauern ins Gewissen, sich das Schicksal des Kriminellen Warnung sein zu lassen.
Abschreckung im grausigen Schauspiel
Wie sinnlos die öffentlichen Hinrichtungen im Sinne der Abschreckung waren, zeigen allerdings Beispiele aus dem Thurgau. In der öffentlichen Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe im Kanton Zürich 1883 (nach der Abschaffung in der Schweiz 1874) wurde in einem Zeitungsartikel ein Thurgauer Kriminalbeamter zitiert, der darauf hinwies, dass der Giftmörder Fröhlich unter den Zuschauern stand, als der Raubmörder Strauss hingerichtet wurde. Jener wiederum war Zeuge, als der Brandstifter Imhof seinen Kopf verlor.
Romy Günthart erklärt: «Viele der Taten, die mit der Todesstrafe belegt wurden, waren eigentlich verunglückte Raubüberfälle. Die Menschen waren so arm und verzweifelt, dass sie glaubten stehlen zu müssen. Wurden sie dabei erwischt, gab es ein Handgemenge, bei dem mitunter der Verteidiger starb. Abschreckung konnte hier nicht greifen.»
Gut fürs Seelenheil?
Fast zynisch wirken aus heutiger Sicht die Argumente der Befürworter der Todesstrafe. Wenn ein Missetäter noch im Diesseits für seine Sünde Busse tue, dann rettete das seine Seele, hiess es. Ihm die Exekution zu verweigern, wäre demnach geradezu unchristlich. Immerhin muss man den Thurgauern lassen, dass sie konsequent den Delinquenten - anders als in anderen Kantonen üblich - ein christliches Begräbnis zugestanden.
Überhaupt stellt Romy Günthart dem Kanton ein differenziertes Zeugnis aus. Im Kanton Bern wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 41 Menschen von Rechts wegen getötet, schreibt sie. Im Thurgau seien es im gleichen Zeitraum neun gewesen, also vergleichsweise wenig. «Der Thurgau war nach 1803, als er selbständiger Kanton wurde, bewusst zurückhaltend bei der Verhängung von Todesurteilen. Es gab das Prinzip der Rechtsgleichheit und der Gewaltentrennung. Das kann als fortschrittlich und vorbildhaft gelten.»
Tragische Einzelschicksale
Bei der genauen Analyse aller Einzelfälle ist die geringe Anzahl allerdings nur ein kleiner Trost. 1818 wurden Konrad Brüllmann und Anna Hitz geköpft. Hitz war jahrelang von ihrem Schwiegervater misshandelt worden und hatte deshalb ihren Mann zum Vatermord angestiftet. «Als ich die wackeligen Kreuze unter den Vernehmungsprotokollen gesehen habe, die Brüllmann und Hitz anstelle einer Unterschrift gesetzt haben, musste ich pausieren. Das Schicksal der Beiden ist mir nahe gegangen», sagt die Historikerin.
Die Zeitgenossen sahen es anders. Der Geistliche, der das Ehepaar zum Schafott begleitete, sprach in seiner Standrede von «fehlender Ehrerbietung gegenüber dem greisen Haupt des Vaters», was eben dem vierten Gebot widerspricht. Mildernde Umstände – unter anderem die extreme Armut seit der Hungersnot 1816/17 – wurden nicht zur Kenntnis genommen.
Wie reiche Familien die Justiz beeinflussten
In den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts kam Kritik an den Justizbehörden auf. Anlass war ein Todesurteil 1831. Ein Brandstifter hatte nur geringen Sachschaden angerichtet. Die Scheune, die er anzündete, gehörte jedoch einer einflussreichen Familie. Sie nahm Einfluss auf die Richter.
Ähnlich schlecht erging es einem Dieb, der bei einem Einbruch einen Knecht getötet hatte. Statt Totschlag - wie erstinstanzlich geurteilt - verschärfte das Obergericht 1833 auf Drängen einer reichen Familie den Spruch auf Mord und damit auf Tod durch das Schwert. Zwar sprachen sich zwei Drittel der Ratsherren für eine Begnadigung aus, doch für eine mildere Strafe hätte es nach der Verfassung drei Viertel der Stimmen gebraucht.
Sonderfall Giftmord
Nicht jeder Verurteilte weckte in gleichem Masse Sympathien. Der vorbestrafte Vergewaltiger, der 1853 sein 13-jähriges Opfer tötete, konnte nicht auf eine Begnadigung im Grossen Rat hoffen, ebenso wenig der Giftmörder, der 1839 den Mann seiner Geliebten umbrachte.
Giftmorde wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts seltener, weil man ihnen durch die Fortschritte der Wissenschaft leichter auf die Spur kam. «Vor allem aber, weil 1849 das Scheidungsrecht eingeführt wurde.» erklärt Romy Günthart. «Man muss bedenken, dass Frauen vor 200 Jahren schon aus Versorgungsgründen heiraten mussten. Liebesehen waren selten. Und dann gab es keinen Ausweg aus der Ehe als den Tod des ungeliebten Partners.»
Fotos schaffen die Brücke zur Gegenwart
Der Fotograf Roland Iselin hat gemeinsam mit der Autorin die Tatorte, den Weg zum Schafott und die Richtstätte aufgesucht und dort Bilder gemacht. Die Murg, Rebberge, ein Wald, ein Riegelhaus oder Streuobstwiesen zeigen eine thurgauische Idylle. «Man schaut das Bild an und findet es schön», meint der Künstler. «Und dann liest man, was dort Grausames passiert ist. Dieses Zusammenspiel zwischen Text und Bild hat mich interessiert.»
Besonders augenfällig wird das bei der ehemaligen Richtstätte des Thurgaus, die sich bis 1864 in Frauenfeld südlich des Galgenholzes bestand. Heute befindet sich hier der Sportplatz Allmend. «Der Platzwart wusste zwar, dass unter Platz 4 die alte Römerstrasse verlief, aber vom gemauerten ‹Rabenstein› hatte er keine Ahnung», erzählt Romy Günthart.
Möglicherweise ist auch den Besuchern des Natur- und des Archäologischen Museums nicht bewusst, dass das Gebäude 1831 als Untersuchungsgefängnis und kantonales Verhöramt errichtet wurde. Und das heutige Kulturzentrum «Komturei Tobel» diente zwischen 1811 und 1973 als Zucht- und Arbeitsanstalt.
Faszinierende Lektüre
Günthart und Iselin haben mit dem Band 162 in der Reihe der «Thurgauer Beiträge zur Geschichte» ein attraktives Buch herausgebracht, dass sowohl für Laien als auch für Wissenschaftler interessant sein dürfte. Gegen den Gedanken, auf den Trend zu «True Crime» aufzuspringen, verwahrt sich die Autorin: «Ich will sicher nicht den Buchmarkt bedienen. Mir geht es darum, den Opfern eine Stimme zu geben.»
Und auch eine politische Botschaft hat sie: «Wir haben heute in Bezug auf Demokratie und das Justizsystem so viel erreicht. Aber es kann kippen. Und wenn man sieht, welches Leid bei Opfern und Tätern durch die extreme Armut im 19. Jahrhundert entstanden ist, dann möchte man auch unserem Sozialstaat Sorge tragen.»
Das Buch
Romy Günthart (Text) und Roland Iselin (Fotografien)
«Verurtheilt zur Strafe des Schwerts. Todesurteile und Hinrichtungen im Kanton Thurgau 1803–1874 ist in der Reihe «Thurgauer Beiträge zur Geschichte» als Band 162 erschienen. Das Buch kostet 48 Franken. Hier kann man es bestellen.
Von Inka Grabowsky
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