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Wie sich der Kulturjournalismus selbst abschafft

Wie sich der Kulturjournalismus selbst abschafft
Nicht gekommen, Platz genommen: Wenn Kulturjournalist:innen immer weniger über Kulturanlässe berichten, finden Kulturschaffende andere Wege um Aufmerksamkeit erhalten. Das schadet nicht nur dem Journalismus, sondern auch dem gesellschaftlichen Diskurs. | © Canva

Und wie wir das vielleicht wieder hinbekommen. Ein Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Es gab mal eine Zeit, da machte es einen Unterschied, ob Journalist:innen über Kulturanlässe berichteten, oder nicht. Wenn die Zeitung über eine Ausstellung, ein Theaterstück oder ein Konzert schrieb, dann kamen danach in der Regel mehr Zuschauer:innen zu diesen Aufführungen in die Kulturhäuser als vorher. 

Heute beklagen zwar viele Kulturschaffende einen Rückgang an Kulturberichterstattung (der übrigens laut Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Uni Zürich zumindest in den letzten fünf Jahren nicht so dramatisch stattgefunden hat, wie er wahrgenommen wurde), aber hinter der Hand sagen einem dieselben Kulturschaffenden auch, dass es heute fast keinen Unterschied mehr macht, ob Medien berichten. Viele, vor allem die grösseren Kulturhäuser, haben längst eigene Kommunikationskanäle über die sozialen Medien aufgebaut. Darüber erreichen sie ihr Publikum zielsicherer als über die Tageszeitung.

Kulturjournalismus? In manchen Bereichen unerwünscht

Für den Journalismus aber noch dramatischer ist, was manche Kulturschaffenden im zweiten Satz sagen: Manchmal seien sie sogar froh, wenn niemand berichte. Dann könne zumindest auch kein Unsinn veröffentlicht werden. Der Verlust an Expertise in den Kulturredaktionen hat offenbar dazu geführt, dass Kulturjournalismus nicht nur irgendwie egal geworden ist, sondern in manchen Bereichen geradezu unerwünscht ist. Das muss man als Kulturjournalist erstmal sacken lassen.

Wie konnte es so weit kommen? Die Entwicklung ist komplizierter als man auf den ersten Blick denkt. Es ist wohl am ehesten eine Gemengelage aus Kulturjournalist:innen, die sich selbst wichtiger nahmen als ihr Berichterstattungsobjekt, aus Verlagsmanagern, die geringe Lesequoten für Kulturtexte als Blankoscheck verstanden, Kulturressorts zusammenzustreichen statt sie besser zu machen und einem Publikum, das in seinen Bedürfnissen so divers geworden ist, dass es herausfordernder (man könnte auch sagen: spannender) geworden ist, einen akzeptierten und geschätzten Kulturjournalismus zu produzieren. 

 

Die Anforderungen an Kulturjournalist:innen sind heute anders als noch vor 20 Jahren.

Vor allem die Zahl der Rezensionen sinkt

Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Uni Zürich hat die Lage des Kulturjournalismus in der Schweiz 2021 als „intakt, aber gefährdet“ bezeichnet (die gesamte Studie als Download Studie Kulturberichterstattung_Schweiz.pdf). In nüchternen Zahlen betrachtet, bedeutete das: Kulturberichterstattung macht rund 10 Prozent der Gesamtberichterstattung in Schweizer Nachrichtenmedien aus. Zum Vergleich: Politik (30,9%), Human Interest/Softnews (29,8%), Sport (13,6%) und Wirtschaft (13,3 %) haben höhere Anteile.

Der Kultur-Anteil ist demnach zwar in den letzten fünf Jahren konstant geblieben, aber die absolute Zahl der Berichte zu Kulturthemen ist dennoch rückläufig. Am deutlichsten ist das erkennbar für die journalistische Form für die man am meisten Expertise benötigt - die Rezension. Laut fög ist die Anzahl publizierter Rezensionen zwischen 2017 und 2019 um die Hälfte eingebrochen. 

Vermutlich wäre der Rückgang der Kulturberichterstattung noch deutlicher geworden, wenn die Studienautor:innen der Uni Zürich nicht einen so breiten Kulturbegriff angewandt hätten. Sie beziehen sich in der Definition ihres Untersuchungsgegenstandes auf den Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli, wonach Kulturjournalismus „die Thematisierung von Kultur durch das Mediensystem und den Journalismus, welche nicht nur künstlerische Artefakte, sondern alle Ausdrucksformen des menschlichen Lebens und der Gesellschaft umfasst, und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um Hoch- bzw. Elitekultur, Volkskultur oder Populär- und Alltagskultur handelt.“

Die Kulturschaffenden schliessen die Lücke notgedrungen selbst

Ganz gleich, wie gross oder klein der Rückgang der Kulturberichterstattung nun wirklich ist: Die Entwicklung hat dazu geführt, dass sich Kulturschaffende im Ringen um Aufmerksamkeit notgedrungen Alternativen überlegt haben. Sie haben nicht nur eigene Websites gebaut, sie haben vor allem ihre Aktivitäten in den Sozialen Medien ausgebaut.

Dort findet sich jetzt vieles von dem, was es früher im Kulturjournalismus gab: Interviews, Kulturvermittlung, Blicke hinter die Kulissen, Künstler:innenporträts und vor allem - viele Bilder. Der Rückzug des Kulturjournalismus hat diese Entwicklung erst entfesselt. Wenn man so will, hat sich der Kulturjournalismus dadurch selbst abgeschafft.

Die Lücke, die entstanden ist, haben die Kulturschaffenden selbst gefüllt. Vor allem für die grossen Häuser, Festivals und Einrichtungen funktioniert das gut: Das Kunsthaus Zürich hat fast 60’000 Follower auf Instagram, das Open Air Frauenfeld mehr als 170’000, das Kunsthaus Bregenz rund 27’000. Wer braucht da noch Kulturjournalismus, wenn man das eigene Publikum viel direkter über eigene Kanäle erreichen kann auf denen man die Botschaften auch noch selbst definieren kann?

 

Die Lage im Thurgau

Auch im Thurgau haben Kulturschaffende auf den Rückgang der Berichterstattung reagiert und eigene Kommunikationskanäle aufgebaut. Die Theaterwerkstatt Gleis 5 produzierte eigene Podcasts, das Historische Museum Thurgau erklärt Objekte auf seinem Instagram-Kanal und das Eisenwerk stellt Menschen hinter dem Verein über seine Social-Media-Kanäle vor. Zahlenmässig ist das (abgesehen vom Open Air Frauenfeld) noch überschaubar. Die Summer Days Arbon haben 6914 Follower:innen auf Instagram, bei den kantonalen Museen liegt das Kunstmuseum Thurgau vorne (2206 Follower:innen). Interessant ist aber auch hier, dass sich was bewegt. Besonders die vor allem von jüngeren Menschen verantworteten Institutionen wie das Out in the Green Garden (1695 Follower:innen) oder das KAFF (2672 Follower:innen) nutzen die Social-Media-Kanäle versteckt. Kulturjournalismus könnte auch hier seine Bedeutung verlieren, wenn er nicht rechtzeitig reagiert.

Was Kulturjournalismus kann

Die Sache ist nur die - gut gemachter Kulturjournalismus erbringt ja weit mehr als eine Aufmerksamkeitsdienstleistung für die Kulturbranche. Erst unabhängiger Kulturjournalismus ermöglicht den gesellschaftlichen Diskurs über Kulturprodukte jenseits der eigenen Wohlfühl- und Fanbubble.

Kritische Rezensionen eröffnen die Debatte über die Deutung und Interpretation von Kunstwerken und die wird man nicht auf den eigenen Kanälen der Kulturschaffenden finden. Dabei vervielfältigt erst dieser Dialog die Leistungen, die die Kulturschaffenden fraglos für die Gesellschaft erbringen, in die Breite der Gesellschaft hinein. Findet dieser Dialog nicht mehr offen, sondern nur mehr PR-gesteuert statt, dann ist der Diskurs über Kunst und Kultur tot.

Aber die gute Nachricht ist - nichts muss bleiben, wie es ist. Noch ist Zeit umzusteuern, den Kulturjournalismus wieder zu beleben und den Austausch über Kultur aus den Fanbubbles heraus und in den öffentlichen Raum hineinzustellen. 

 

Für die wirklich relevanten Geschichten müssten auch Kulturjournalist:innen heute viel mehr recherchieren. Aber dank Digitalisierung müssen sie das nicht mehr alleine tun.

Direkte Förderung für Kulturjournalismus

Was es dafür braucht, dazu hat nicht nur die fög, sondern auch der Verein CH-Intercultur in seiner Stellungnahme zur Vernehmlassung der Kulturbotschaft 2025 Vorschläge gemacht: eine direkte Medienförderung zur Verbreitung von Kulturinformationen, die Schaffung einer gemeinsamen IT-Infrastruktur (genau daran arbeiten gerade das St. Galler Magazin Saiten und thurgaukultur.ch), sowie neue, spendenbasierte Geschäftsmodelle für Online-Kulturjournalismus.

Fünf Dinge, die Kulturjournalist:innen ändern können

Neben strukturellen Neuerungen ist aber auch eine inhaltliche Neuorientierung im Kulturjournalismus zwingend. Notwendig dafür sind zum Beispiel: 

1. Mehr Offenheit für neue Formate: Der Kulturjournalismus des 21. Jahrhunderts schafft verschiedene Zugänge zu seinen Themen. Er erzählt multimedial und divers und passt sich so den neuen Nutzungsgewohnheiten des Publikums an, ohne dabei an Tiefe zu verlieren.

2. Mehr Mut: Kulturjournalismus sollte viel häufiger das Instrument der Recherche verwenden, um Zusammenhänge und Kontexte zu erklären. Dazu gehört auch, sich nicht als Teil der Kulturbubble zu verstehen, sondern als konstruktiv-kritischer Begleiter.

3. Mehr Transparenz: Wir Kulturjournalist:innen müssen viel besser erklären, wie wir arbeiten und nach welchen Kriterien wir beispielsweise Rezensionen verfassen. Es geht darum, unser journalistische Selbstverständnis offenzulegen. Das schafft Nähe und Vertrauen. Ein öffentlich einsehbares Redaktionsstatut kann ein Mittel sein, dies zu erreichen.

4. Mehr Dialog, weniger Selbstgewissheit: Die Vorstellung vom über allem thronenden Kritiker:in ist längst überkommen. Wer Kritik übt, muss auch selbst Kritik ertragen können. Deshalb sind Formate gut, die zeigen, das wir uns durchaus auch selbst hinterfragen. Wir haben beispielsweise bei thurgaukultur.ch mit dem innovativen Format der Gegenkritik experimentiert. Hier erhalten Kulturschaffende Gelegenheit auf Rezensionen zu antworten.

5. Mehr Expertise: Vielleicht das Wichtigste - es braucht wieder mehr Kulturjournalist:innen, die wissen, worüber sie schreiben. Der Abbau der Kulturredaktionen hat zu einem massiven Wissensverlust geführt. Das kann man nur stoppen, in dem man Kulturjournalist:innen regelmässig schult. Auch darin, wie man komplizierte Zusammenhänge verständlich erklärt, ohne sie zu plump zu vereinfachen. Es geht auch darum, ein neues Berufsbild zu schaffen: Weg vom Welterklärer, hin zum konstruktiv-kritischen Kulturvermittler.

Am Ende hilft nur eins - Geld

Wenn die grossen Verlage diesen Weg nicht mitgehen wollen, dann hilft tatsächlich nur noch eine Idee, die die Uni Zürich in ihrer Studie formuliert hat - die direkte Förderung von Kulturjournalismus. 

Vor allem an jene Magazine und Internetseiten, die nicht nur auf der Suche nach Konflikten, sondern auch nach Lösungen sind. Ich meine damit einen Journalismus, der seine Inhalte nicht nach Reichweite und Klickzahlen ausrichtet, sondern nach gesellschaftlicher Relevanz. Was gerade gesellschaftlich relevant ist, das vermessen die neuen Kulturjournalist:innen gemeinsam mit ihrer Community regelmässig neu.

Mehr Mut zu gemeinnützigem Journalismus könnte so am Ende auch den Schweizer Kulturjournalismus retten.

 

Kongress zur Zukunft des Kulturjournalismus

Das Ostschweizer Magazin Saiten macht sich auch Gedanken über die Zukunft des Kulturjournalismus. Deshalb veranstalten sie am Samstag, 21. September, einen «Kongress zum Kulturjournalismus der Zukunft» Der Kongress richtet sich an Leserinnen und Leser, Medienschaffende, Kulturschaffende sowie Veranstalter:innen. Von 15 bis 21 Uhr gibt es an diesem Tag ein abwechselungsreiches Programm. Details dazu gibt es auch in unserer Agenda.

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