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von Judith Schuck, 06.06.2024

Wie inklusiv sind Thurgauer Kulturstätten?

Wie inklusiv sind Thurgauer Kulturstätten?
Wie inklusiv sind die Thurgauer Kultureinrichtungen? Bereits an der Thurgauer Kulturkonferenz im Oktober 2023 hatte David Herzmann, Kunstvermittler, Vorstand des Vereins „Kultur für alle“, blind und auf einen Rollstuhl angewiesen, Workshop-Teilnehmer:innen erklärt, was es heisst blind in einer Kunstausstellung zu sein. | © Kulturstiftung des Kantons Thurgau/Beni Blaser

Noch bis Mitte Juni möchte der Kanton mit den Aktionstagen Behindertenrechte die Gesellschaft für das Thema Inklusion sensibilisieren. Eine Recherche zeigt: Viele Thurgauer Kultureinrichtungen sind noch nicht richtig barrierefrei. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Inklusion ist ein grosses Wort. Von ihrer gesamtgesellschaftlichen Umsetzung sind wir noch weit entfernt, doch es passiert etwas im Kanton. Erstmals finden die Aktionstage für Behindertenrechte im Thurgau statt. Seit dem 15. Mai und noch bis zum 15. Juni werden über 40 Veranstaltungen geboten, die ein „Miteinander statt Nebeneinander“ fördern möchten, so das Motto der vom Sozialamt koordinierten Aktionstage. 

Zum Programm gehören Tanzkurse, Zirkusshows, Fussballmatches „Allinklusiv“, Museumsführungen im Rollstuhl oder für Sehbehinderte, Theaterstücke, Vorträge und Schreibworkshops. Das komplette Programm für den Thurgau gibt es unter Zukunft Inklusion. Mit den schweizweiten Aktionstagen soll das Thema Inklusion sicht- und erlebbar gemacht werden, immerhin ist die Schweiz bereits seit 2014 Mitglied der UNO-Behindertenrechtskommission.

Was der Verein „Kultur für Alle“ leistet

Die ersten Thurgauer Aktionstage wurden am 17. Mai im Sozialamt in Frauenfeld eröffnet. Amtsleiter Stephan Ekchart erklärt dort: „Ziel der Aktionstage ist, die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskommission voranzutreiben“. Denn es muss noch viel passieren, damit alle Menschen gleichberechtigt in unserer Gesellschaft leben können. Damit Inklusion in der Ostschweizer Kultur vorangetrieben wird, gründete sich im Herbst 2022 der Verein Kultur für Alle

Die Gründung des Vereins "Kultur für Alle" hat die Fachstelle Kulturinklusiv in der Ostschweiz von Pro infirmis angestossen. Der Aufbau der Fachstelle wurde vom Kanton Thurgau finanziell unterstützt. Rebecca Schnyder aus dem Vorstand von „Kultur für Alle“ zeigt sich erstaunt ob der vielen Anfragen, die den Verein seitdem erreichen. 

„In den vergangenen anderthalb Jahren sind wir doch häufiger kontaktiert worden als gedacht“, sagt Schnyder, Autorin und Kulturmanagerin, die sich mit ihrer Vereinsmitgliedschaft für eine kulturelle Teilhabe engagiert. „Das Bedürfnis nach einer Anlaufstelle ist da.“ Vor allem Kulturschaffende und Institutionen kämen oft mit eigenen Ideen auf sie zu, weil sie nicht wüssten, wo und wie sie diese kommunizieren könnten.

 

Stephan Eckhart, Leiter Sozialamt Kanton Thurgau, und Charlotte Mäder von der «Thurgauische Arbeitsgruppe für Behinderte» (TAB) Freizeit und Bildung an einer Medienkonferenz zu den Aktionstagen Behindertenrechte. Bild: zVg

Eine niederschwellige Anlaufstelle

Aktuell finden sich auf der Vereinshomepage auch Programmpunkte der Aktionstage. Institutionen wenden sich aber auch an „Kultur für Alle“, wenn sie ihre Homepage in einfacher Sprache texten wollen oder wenn es um die Übersetzung einer Veranstaltung in Gebärdensprache geht. „Oder betroffene Kunstschaffende kommen zu uns, wenn sie nach Anknüpfungspunkten suchen“, so Schnyder. 

Die Ausschreibung für das grenzüberschreitende Kunstfestival „Heimspiel“ ist 2024 dank des Vereins in einfacher Sprache übersetzt worden „und wir sind in Kontakt mit Heimspiel über weitere zugängliche Massnahmen für die diesjährige Durchführung“, sagt Rebecca Schnyder. 

An diesen wenigen Beispielen merken wir schon, wie weit das Feld der Zugänglichkeit ist und wie breit der Begriff der Inklusion. „Wir können nicht alles für alle sofort öffnen“, gibt Schnyder zu. Wer den Anspruch hat, komplett inklusiv sein zu wollen, wäre schnell überfordert, sagt sie. „Dieser Anspruch hält viele davon ab, kleine Schritte zu gehen. Hier wollen wir ermutigen, anzufangen.“

Die Museen in Ittingen sind schwer zugänglich mit dem Rollstuhl

Peter Stohler leitet seit Herbst 2023 das Kunstmuseum Thurgau und das Ittinger Museum. Gerade in historischen Gebäuden ist die Barrierefreiheit für Gehbehinderte oder Rollstuhlfahrende oft schwierig zu gewährleisten. Anlässlich der Aktionstage gab Peter Stohler, selbst Rollstuhlfahrer, eine Führung durch seine Museen für Rollstuhlfahrende und Fussgänger:innen. „Ich war überwältigt vom Andrang“, sagt er. 

Die meisten Teilnehmenden waren Fussgänger:innen, aber auch fünf Rollstuhlfahrende waren dabei. So konnten die Hürden und Hindernisse in den Gebäuden eins zu eins veranschaulicht werden: Unschön für Menschen mit Rollstuhl, Rollator oder Gehstock sei der Zugang. „Sie müssen seit den 1980er Jahren durch einen Nebeneingang hereingelotst werden“, erklärt Stohler. Das sei zwar besser als nichts, aber der Nebeneingang sei verwahrlost und unfreundlich.

 

«Für Leute wie mich, die im Rollstuhl sitzen, sind die Museen in Ittingen in Teilen nicht zugänglich ohne fremde Hilfe. Das muss sich ändern», sagt Peter Stohler, neuer Direktor des Kunstmuseum Thurgau und des Ittinger Museums. Bild: Michael Lünstroth

Zu steile Rampen als Hindernis

Im Museum drinnen gebe es keinen Personenlift und die Rampen seien teils zu steil. Für Peter Stohler war die Führung dahingehend eine Premiere, dass er selbst erstmals eine Führung im Rollstuhl gab. „Bei der einen Rampe komme ich runter, auch wenn es ein bisschen gefährlich ist, aber nicht rauf. Dafür benötige ich Hilfe.“ 

Auch im Ittinger Museum gebe es Treppen und Absätze, die Hindernisse darstellten. Dass die baulichen Massnahmen für eine barrierefreie Sanierung in den beiden Museen derzeit auf Eis liegen, ärgert Peter Stohler. Er wolle nicht auf die optimale Gesamtlösung warten. In Absprache mit dem kantonalen Hochbauamt setzt er sich dafür ein, dass punktuell Verbesserungen geschaffen würden. Inklusion sieht auch Peter Stohler als grosses Feld, dem er sich Puzzleteil für Puzzleteil annehmen wolle. „Ich denke über Angebote für Hör- und Sehbehinderte nach, an Texte in einfacher Sprache. Wir wünschen uns da das ganze Programm, nach und nach.“ 

Wie das Eisenwerk mit dem Thema umgeht

Ebenfalls in Etappen geht das Eisenwerk in Frauenfeld das Thema an, denn Inklusion habe so viele Aspekte. Claudia Rüegsegger, Geschäftsstellenleiterin im Eisenwerk, bekräftigt, dass es in den nächsten Jahren vorangetrieben wird. 

Veranstaltungen im Saal und in der Shedhalle sind über eine Rampe für Rollstuhlfahrende zugänglich. Zum Theatersaal führt allerdings der Weg über eine Treppe. „Daran wird sich so schnell auch nichts ändern lassen, weil es weder Platz noch finanzielle Mittel für einen Lift gibt“, sagt Rüegsegger. 

Nichtsdestotrotz habe am letzten Mitmach-Theater eine Jugendliche im Rollstuhl mit Assistenz teilgenommen, „was uns freut“. Des Weiteren habe die Programmgruppe co-labor, die sprachenunabhängig Raum zum gemeinsamen Werken und Gestalten bietet, ihre Informationen in zahlreiche Sprachen übersetzt.

 

Das Eisenwerk ist in einigen Bereichen nicht rollstuhlgängig. Bild: Judith Schuck

Öffentliche Plätze und Gebäude digital erfasst

Für Inhaber:innen der Caritas KulturLegi kosten alle Veranstaltungen im Eisenwerk pauschal 5 Franken. „In letzter Zeit machen erfreulicherweise vermehrt Personen davon Gebrauch, nachdem das jahrelang offenbar mit Scham behaftet war“, sagt Claudia Rüegsegger. 

Das Eisenwerk ist im Dienstleistungsprogramm Digitale Zugänglichkeitsdaten (DZD) von Pro Infirmis. Orte und Plätze werden standardisiert durch geschulte Teams von Pro Infirmis erfasst. Die Teams sind meist gemischt zusammengesetzt aus Menschen mit und ohne Behinderungen.

Weitere Beispiele für Kulturinstitutionen in historischen Gebäuden, die gerne zugänglicher wären, sind das Phönix Theater in Steckborn sowie das Historische Museum Thurgau im Schloss Frauenfeld.

Für echte Inklusion fehlt oft das Geld

Als der Theatersaal vor 30 Jahren in das ehemalige Wärmepumpenhaus im Feldbachareal gebaut wurde, sei bei weitem noch nicht so inklusiv gedacht worden wie heutzutage, sagt Julia Sattler, Co-Leiterin des Phönix Theaters. Ein barrierefreier Zugang ins Theater hiesse eine Neugestaltung der kompletten Räumlichkeit. „Dafür fehlt uns momentan leider das nötige Kleingeld.“ 

Bei jeder Veränderung oder potentiellen Neugestaltung würden diverse Möglichkeiten geprüft, wie ein inklusiver Zugang möglich wäre. „Nichtsdestotrotz haben wir bisher immer eine Lösung gefunden, so dass jede:r auf unserer Bühne sein und/oder das Stück nach Wahl geniessen konnte“, gibt sich Sattler zuversichtlich.

 

An der Thurgauer Kulturkonferenz konnten Teilnehmer:innen ausprobieren, was es bedeutet, blind in einer Kunst-Ausstellung zu sein. Bild: Kulturstiftung des Kantons Thurgau/Beni Blaser

Kein Lift im Schloss Frauenfeld

Was das Historische Museum Thurgau betrifft, sagt Leiterin Gabriele Keck: „Das Schloss ist alles andere als barrierefrei. Menschen mit leichteren Mobilitätseinschränkungen können wir momentan einen transportablen Rollstuhl zur Verfügung stellen. Kinderwagen finden bei Regenwetter in der Remise einen Unterstand. Über einen Lift verfügen wir nicht.“ 

Wenn das Sanierungs- und Optimierungsprojekt von Schloss Frauenfeld umgesetzt werden kann, ändert sich dieser Zustand. Die Wiedereröffnung ist bis 2028 geplant. Die Ausstellungsfläche im Alten Zeughaus, wo während der Umbauphase ausgestellt wird, ist ebenerdig. Im Schaudepot St. Katharinental sind Erdgeschoss und erstes Obergeschoss via Lift rollstuhlgeeignet.

Die Lage im Presswerk Arbon und Kunstraum Kreuzlingen

Komplett barrierefrei sind Veranstaltungen im Presswerk in Arbon zugänglich. Der Saal ist ebenerdig, Türschwellen können mit Rampen und kleinen Übergängen überwunden werden. „Wir haben uns aber keinem Label verschrieben und hatten bisher noch keine Berührungspunkte mit dem Thema Inklusion“, sagt Cyrill Stadler aus dem Vorstand des Kulturvereins Presswerk.

Reto Müller, Kurator im Kunstraum Kreuzlingen, sieht es als zentrales Anliegen, dass Kunstraum, Kunstlabor und Tiefparterre barrierefrei erreichbar sein müssen: „Wir haben den Haupteingang letztes Jahr verlegt, aktuell noch als Provisorium. Das Tiefparterre ist über den Personenlift zu erreichen.“ Neben einer möglichen eingeschränkten Beweglichkeit der Museumsbesucher:innen behält er deren sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit im Blick: „In der aktuellen Ausstellung bieten wir neben den Führungen und den Vermittlungsangeboten auch Audiowalks.“ 

Der Kunstraum befindet sich im selben Gebäude wie das Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X. Momentan läuft für das gesamte Gebäude eine Vorplanung zu einer notwendigen Gebäudesanierung, die Zugänglichkeit und Brandschutz betrifft. „In diesem Zuge würden wir als Kunstraum auch zum Kult-X hin eine verbesserte Eingangssituation erhalten“, sagt Reto Müller. Die anstehende Sanierung des Kult-X, über die das Stimmvolk entscheiden wird, sieht Müller als Chance, ein zeitgemässes Kulturzentrum zu realisieren, bei dem der inklusive Gedanke stärker gewichtet werden solle.

 

So soll das Schloss Frauenfeld nach der Sanierung aussehen. Ob es dazu kommt, steht derzeit in den Sternen. Bild: Schmidlin Architekten Nora Walter

Wie kommunizieren wir über Inklusion?

Roland Lötscher vom Theaterhaus Thurgau erweitert den Fokus wieder mehr auf den kognitiven Bereich. Im Rahmen der Aktionstage Behindertenrechte zeigt das Theater Bilitz das Stück „Gopf, Martha!“ speziell ausgelegt für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. „Wir hatten schon vermehrt Jugendliche und Erwachsene der Stiftung Vivala Weinfelden in unseren Vorstellungen“, sagt Lötscher. 

Die Vorstellung vom 8. Juni ist als „Spezialvorstellung: Auch für Publikum mit körperlicher und/oder kognitiver Beeinträchtigung“ kommuniziert. „Wir haben ein Stück für Kleine gewählt, einfach und ohne grösseren technischen Aufwand.“

Körperliche vs. geistige Behinderung 

Die Geschichte werde sehr körperlich dargestellt mit viel Musik. „Unsere Erfahrung ist einfach, dass die Reaktionen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung schlecht eingeschätzt werden können.“ Darum kommunizierten sie es vorher für die Schulklassen, wenn gemischte Veranstaltungen stattfänden. Körperliche Behinderungen nähmen Kinder eher als „normal“ wahr. „Wir dachten, für die Aktionstage probieren wir es jetzt mal öffentlich“, so Lötscher. 

Für Bilitz-Stücke gab es auch schon Versuche mit Übersetzung in Gebärdensprache. Dies ginge aber nur in Spezialvorstellungen, da es die Kinder sonst zu sehr ablenke. Aktuell fehlten zudem die finanziellen Mittel für eine Gebärdendolmetscherin.

 

Will Inklusion lieber ermöglichen, als immer nur darüber zu reden: Micha Stuhlmann. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Begegnungen schaffen ohne ständig auf Unterschiede hinzuweisen

Micha Stuhlmann als Gründerin des Vereins Laboratorium für Artenschutz und Kulturschaffende stösst an diesem Punkt immer wieder an Grenzen: Wie gehen wir mit der Kommunikation um? „Wie wollen wir das Thema Inklusion unters Volk mischen, wenn wir es so exklusiv machen?“ 

In ihrem Micha Stuhlmann Ensemble spielen Menschen mit und ohne geistige oder körperliche Beeinträchtigungen. „Ich will Begegnungen schaffen, ohne das Brennglas auf die verschiedenen Beeinträchtigungen zu halten.“ Aber momentan sei es noch schwierig, ohne einen gewissen Schutzraum.

Es braucht noch viel, bis eine gleichberechtigte Kultur im Thurgau angeboten werden kann. Schritt für Schritt, wie Rebecca Schnyder sagt, Puzzleteil für Puzzleteil, wie Peter Stohler inklusive Kultur ermöglichen möchte. Mit den Aktionstagen „Miteinander statt Nebeneinander“ will der Kanton für das Thema Inklusion zumindest mal sensibilisieren. Aber wie so oft, ist die Kunst der Gesellschaft doch schon ein paar Schritte voraus.

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