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von Maria Schorpp, 23.06.2025

Sind wir alle zur Lüge verdammt?

Sind wir alle zur Lüge verdammt?
Die in Arbon lebende Autorin Ruth Erat. | © Silvia Wiegers Meyer

Ruth Erat erzählt in ihrem neuen Roman „Wintersee“ von einer Rückkehr an den Bodensee und lässt ihre beiden Hauptpersonen mit grossem Gedankenreichtum über das Fremdeln des Menschen mit der Welt räsonieren. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)

Man kann Pierre als beispielhaften Vertreter des ewigen Nörglers sehen. Als Julia ihm nach vielen Jahren gegenübersitzt, scheint sein Gesprächsanteil zunächst aus Schulterzucken zu bestehen. Er ist Künstler, Bildhauer, der offenbar nicht mehr als solcher tätig ist. Einer, der kompromisslos einer Philosophie der Lebenslüge anhängt. In aller Kürze lautet sie so: Biografie ist eine wirre Folge von Zufällen.

Die Menschen in ihrem Ordnungswahn erzählen sich ihr Leben zurecht, um diese existenziell Leere zu überdecken. „Pierre referierte weiter: Wir nennen unsere Vorstellung Wirklichkeit und erkennen nicht, dass unser Wahrhabenwollen unseren Blick trübt. So lügen wir uns weiter durch unser Leben“, zitiert ihn die Ich-Erzählerin Julia, um resigniert zu bilanzieren: „Mir war elend.“ Kein Wunder.

Es gäbe einiges zu klären

Man kann Pierre aber auch anders sehen. Als einen, der seine Philosophie kompromisslos lebt. „Ich hätte von damals erzählen mögen. Wozu trifft man sich sonst?“, so Julia ein paar Sätze weiter. Für sie zumindest gäbe es einiges zu klären. Warum Pierre, der Freund aus Kindertagen und die erste Liebe, damals nicht wie abgemacht mit in die Cevennen gekommen ist. Um ganz neu anzufangen. Warum er in der Kleinstadt am See geblieben ist. Dass er seine Mutter nicht alleinlassen wollte, hielt sie damals für eine Ausrede. Sie ging weg, in die Grossstadt. Aber warum soll einer, der Erinnerungen für pure Konstruktionen hält, von damals sprechen wollen?

Ruth Erat erzählt in ihrem neuen Roman „Wintersee“ auf einer Ebene von der Rückkehr der Ich-Erzählerin in die Schweizer Kleinstadt am See. Zunächst unter der beruflichen Vorgabe, die Belastung der Erde in den dortigen Gärten zu recherchieren, wird sie Jahr für Jahr zurückkommen zu diesen magischen Sommer auf dem See, um schliesslich die Liebe zu Pierre neu zu erleben. Bis zu einem Bootsausflug im November, in dem beide auf den See hinaus paddeln und eine Bise aufkommt. Pierre wird verschwunden bleiben.

Als ob sie sich mit ihrem Roman formal auf Pierres Seite stellen möchte, erzählt Ruth Erat nicht linear, sondern nutzt das Mittel der Textcollage aus Berichten und Reflektieren für das, was sie zu sagen hat. Die immer wieder neuen Ansätze Julias zu verstehen, was an diesem Novembertag auf dem See passiert ist, wie sie Pierre erlebt und dann verloren hat, wirkt wie der Versuch, eben diese Ordnung in der Erinnerung zu schaffen.

Philosophische und sagenhafte Reflexionen

Die Auseinandersetzung zwischen Pierre und der Ich-Erzählerin ziehen sich durch den Roman und entwickeln sich auf einer anderen Ebene zu einer bildgewaltigen mal philosophischen, mal buchstäblich sagenhaften Reflexion über die Stellung des Menschen in der Welt. Nicht mehr und nicht weniger. Julia teilt durchaus Pierres skeptische Grundhaltung, wonach den Menschen die Welt die meiste Zeit fremd ist. Ja, ihnen auch feindlich vorkommt. Die Schilderung, wie sie als Kind bei einer „Seegfrörni“ mit Schlittschuhen den vereisten See überquert, ist atemberaubend.

Wobei Stilelemente darauf hindeuten, dass es sich tatsächlich nicht um eine im Wortsinn gemeinte Erinnerung handelt. Die immer wieder dazwischengeschalteten Gedankenkreise um Goethes „Erlkönig“ lassen erkennen, wie sich die Erinnerungsbilder und die Ängsten des Kindes überlagern. Was dem Berichteten jedoch erst seine Bildmacht verleiht.

Auf der Suche nach den Wurzeln

Der erinnerungsskeptischen Grundhaltung scheinbar zum Trotz lässt die Autorin die beiden auf die Suche nach ihren Wurzeln gehen. Die Ich-Erzählerin, der am See wie von selbst Erinnerungen an ihre Kindheit und den Vater in den Sinn kommen, ein einsamer Wettkämpfer, der das Schneller- und Erster-Sein zu seiner Überlebensstrategie gemacht hat. „Ich komme an, immer, immer vor allen andern.“ Seinen Kindern erzählt er die Geschichte von Moby Dick und Kapitän Ahab, der an seiner Rache an dem Wal untergeht. Die Lust am Schiffbruch, auch ein wiederkehrendes Motiv.

Mysteriöser die Blicke auf das Leben von Pierres „sich die Welt zurechtsticken(der)“ Mutter. Die Ich-Erzählerin ist sich sicher, dass das in Pierres Atelier vorgefundene Büchlein für sie bestimmt ist. Das Tagebuch seiner Reise mit der an Alzheimer erkrankten Mutter in die Dolomiten. So viel scheint klar zu sein: Sie war damals an jenem Wildsee zuhause, als die deutsche SS prominente Gefangene dorthin entführt hatte, Geiseln für potenzielle Verhandlungen.

Wie die Autorin die Tagebucheinträge dieser Nachkiegsszenarien auf dem Bahnhof beschreibt, Pierres Mutter mittendrin, drängt sich vor dem inneren Auge eine Szene aus „Casablanca“ auf, in der Humphrey Bogart inmitten der Kriegswirren auf einem Pariser Bahnsteig vergeblich auf Ingrid Bergman wartet.

Was passiert sein könnte damals auf dem See

Das ist das Verblüffende an Pierres Reaktion auf die Alzheimer-Demenz der Mutter: Obwohl er alles Erinnern für eine konstruierte Lebenslüge hält, weiss er: Ohne diese vermeintlichen Erinnerungen sind wir alle leere Hüllen. Wir brauchen diese Vorstellung eines gelebten Lebens, sonst werden wir irre. Vielleicht ist dieses Nicht-Aushalten des Zufalls der Grund für das Fremdeln des Menschen mit der Welt. Und so schält sich langsam eine Wahrheit heraus, was passiert sein könnte an diesem stürmischen Novembertag auf dem See.

Aller existenziellen Fremdheit des Menschen in der Welt zum Trotz kann die Ich-Erzählerin, eine auch politisch wache Beobachterin, angesichts der wirklichkeitseinflössenden Gegenwart der Schwäne nicht anders als ausrufen: „Herrgott noch mal, die Welt, Pierre, die Welt!“ Der Roman endet mit einem besonders wunderbaren Satz inmitten vieler wunderbarer Sätze in Ruth Erats Roman: „In mir lebt einen Nu lang diese einzige Gewissheit um eine Welt, die fremd ist, fern und schön.“ Wer sich auf den „Wintersee“ begibt, wird mit grossem Gedankenreichtum belohnt.

 

Ruth Erat: Wintersee. Caracol Verlag, Warth 2025, 184 Seiten, 23 CHF.

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