von Tabea Steiner, 29.06.2023
Das Leuchten des Algorithmus
Mein Leben als Künstler:in (3): Wie man Texte findet oder: Wie Texte einen finden. Die Autorin Tabea Steiner über Recherche und Themenfindung in der Literatur.
Ute Klein hat im ersten Text dieser Reihe beschrieben, wie für sie alles zusammengehört und sich miteinander verknäuelt: das Künstlerin-Sein, das ums-Klima-besorgte Bürgerin-Sein, das Krankenkassenprämienzahlerin-Sein. Als ich das gelesen hatte, musste ich an meinen Algorithmus denken.
Das Angebot meines Algorithmus bringt alles Mögliche und Unmögliche zusammen: Würste und Bürostühle, einen Wunderbaum fürs Auto, Armbanduhren und natürlich Bücher, aber die falschen.
Das muss daran liegen, dass mich alles interessiert, was mir im Alltag, in der Literatur, in der Stadt begegnet.
Und ich ständig im Internet nach irgendwelchen Wörtern, Phänomenen oder Ereignissen suche, von denen ich irgendwo gehört habe. Etwa, dass der Waldrapp nach vierhundert Jahren wieder in der Schweiz brütet, und zwar auf dem Fenstersims einer Harley-Davidson-Garage in Rümlang.
«Ich bin immer auf der Suche nach Textideen, in der Hoffnung, zwischen all dem angesammelten Material Bezüge und Verbindungen zu sehen, die mir neu sind.»
Tabea Steiner, Autorin (Bild: Dirk Skiba)
Ich bin immer auf der Suche nach Textideen, in der Hoffnung, zwischen all dem angesammelten Material Bezüge und Verbindungen zu sehen, die mir neu sind. Beispielsweise treibt mich aktuell der Gedanke um, dass Honig etwas mit Mathematik zu tun haben könnte, dass es Zusammenhänge zwischen einer der ältesten Süssigkeiten und einer der ältesten wissenschaftlichen Disziplinen gibt.
Stundenlange Recherchen bis mir schwindelig wird
Mit solchen Ideen versenke ich mich in stundenlange Recherchen, bestelle Bücher, schaue Dokumentationen an, speichere Artikel ab, höre Podcasts, so lange, bis es nicht nur mir, sondern auch dem Algorithmus schwindelig wird.
Nach solchen Interneteskapaden gehe ich am liebsten in die Natur, in den Wald, um mich zu beruhigen, am besten ohne Telefon. Aber kaum bin ich im Wald, flitzt da eine kleine Maus davon, trippelt dort ein Käfer über den Pfad, singt ein Vogel, huscht ein Eichhörnchen einen Stamm hinauf. Einmal sah ich am helllichten Tag, wie eine Ricke ihr Kitz gesäugt hat, und ein anderes Mal sind mir in der Dämmerung drei Dachse begegnet.
Lernen von den Glühwürmchen
Manchmal gehe ich mit einer Freundin in den Wald. Wir sprechen über Bücher und Gott und die Welt, bis es einnachtet. An einem dieser Abende schauten uns auf dem Nachhauseweg plötzlich hunderte Augen aus dem Dunkel an. Es waren Glühwürmchen.
Zuhause begann ich sofort zu lesen, lernte, dass Glühwürmchen immer zur gleichen Zeit im Jahr leuchten, und immer an den gleichen Stellen, dass sie zwei Lebensjahre als Larve verbringen und sich dabei von Schnecken ernähren, die sie mit Giftbissen töten und innerhalb eines einzigen Tages ganz auffressen, mitsamt Häuschen. Erst ganz am Ende seines Lebens schlüpft das Glühwürmchen und tanzt seinen stillen Lichtreigen.
Meine Freundin und ich schickten uns Links und Bilder hin und her. Schon verrückt, schrieb sie, die Vorstellung, sein eigenes Licht zu machen.
Der fertige Text macht nur einen Teil der Arbeit sichtbar
Im zweiten Text dieser Reihe schreibt Fabian Ziegler, dass ein Konzert nur die Spitze des Eisbergs vom eigentlichen Musikschaffen ist. Auch in einem Text ist immer nur ein kleiner Anteil dessen sichtbar, was sich durch die Recherche, durch Gespräche mit Freundinnen, Erlebnisse des Alltags und Nachrichten aus aller Welt angesammelt hat.
Und auch die Glühwürmchenlarve überfrisst sich an so mancher Schnecke, um letztlich nur ein paar wenige Stunden lang zu leuchten.
Die Serie «Mein Leben als Künstler:in»
Im Juni 2023 lancieren wir die neue Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in». Darin schreiben die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit. Diese vier Künstlerinnen und Künstler schreiben bis Ende Oktober 2023 regelmässig und abwechselnd ihre Kolumnen für die neue Serie. Sie erscheint ab dem 15. Juni immer donnerstags. Die Vorgaben, die wir aus der Redaktion gemacht haben, waren minimal. In Thema, Stil, Darstellungsform, Tonalität und Medialität sind alle Autor:innen frei. Die Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Dingen, die die Künstler:innen beschäftigen, wie den Bedingungen des Kulturbetriebs oder auch mit dem Kulturleben im Thurgau oder was auch immer, ist genauso möglich wie eine Schilderung des Alltags. Ziel der Serie ist es, ein möglichst realistisches Bild der verschiedenen Künstler:innen-Leben zu bekommen.
Idealerweise entsteht so ein Netz aus Bezügen - interdisziplinär und umspannend. Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.
Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.
Was wir uns als thurgaukultur.ch auch erhoffen mit der Serie ist, dass ein neuer Dialog der Kulturschaffenden untereinander entsteht, aber nicht nur. Es soll auch ein Austausch mit dem Publikum, also unseren Leser:innen stattfinden. Das geht über unsere Social-Media-Kanäle, in denen wir direkt miteinander diskutieren können oder in der Kommentarspalte zu den einzelnen Beiträgen auf unserer Website. Wenn du konkrete Fragen an die teilnehmenden Künstler:innen hast, wenn dich ein Themenfeld besonders interessiert, dann kannst du mir auch direkt schreiben, ich leite dein Anliegen dann gerne weiter: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch
Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.
Von Tabea Steiner
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