von Jeremias Heppeler, 14.09.2018
Vorsicht Hochspannung!
Komplex, vielschichtig, schwer zu entschlüsseln: Mit einem fulminanten Werk setzt Florian Germann im Kunstraum Kreuzlingen eine Arbeit fort, die er einst in Zürich begann
Wenn ein Blitz einschlägt, dann werden in einem Ausmass Energien freigesetzt, dass das menschliche Gehirn diesen kaum noch Herr wird. Die totale Entladung! Der Blitz frisst sich durch Holz, Fleisch und in die Erde, erschüttert die Umwelt und alles und jeden, der sich darin bewegt. Wenn ein Blitz einschlägt, dann wird der Mensch zur Nebensache. Zur Nichtigkeit. Zur Randnotiz. Wir erstarren im Angesicht der schieren Allmacht des Zufalls und der Natur. Oder aber: Deuten ihn als Zeichen und Wink einer grösseren, ja göttlichen Macht.
Als ein solcher Stral, wie man ihn damals in frühneuhochdeutschen beschrieb, am 7. Mai des Jahres 1572 in einen Turm des Zürcher Münster schepperte, da erschien die symbolische Kraft des Naturereignis beinahe grösser als die energetische. Viel anschaulicher konnte Gott seinen Missmut gegen die Kirchenoberen ja kaum noch ausdrücken! Um der drohenden semantischen Katastrophe Herr zu werden, setzte sich der Reformator Heinrich Bullinger, der ein Briefwechselsystem in ganz Europa verankert hatte, an seinen Schreibtisch und setzte dort zig Schreiben auf, die den Stral aus der göttlichen Sphäre loslösen und ihn auf dem Boden der natürlichen Tatsachen rückverankern sollte.
Verhält sich «Stral 1» zu «Stral 2» wie «Terminator 1» zu «Terminator 2»?
Dieses Netz der historischen Ereignisse nahm der Kreuzlinger Künstler Florian Germann zum Anlass für eine komplexe und vielschichtige Ausstellung. „Die Stral“ wurde dieses Jahr in der Züricher Universität gezeigt und findet nun ihre Fortsetzung in Form von „Die Stral 2“ im Kunstraum Kreuzlingen. Diese Konstellation wirft zunächst formale Fragen auf. Verhält sich „Stral 1“ zu „Stral 2“ wie „Terminator 1“ zu „Terminator 2“, nämlich als komplexere und wohl bessere Fortsetzung? Oder aber als blosse Wiederholung? Oder haben die beiden Schauen so gar nichts miteinander zu tun?
Im Gespräch mit dem Künstler wird plötzlich deutlich, dass ausgerechnet der vollkommen willkürliche Terminator-Vergleich einen entscheidenden Hinweis auslöst. Nicht auf formaler, wohl aber auf inhaltlicher Ebene. „Das Wetter spielt eine grosse Rolle. Wie sehen, empfinden und sprechen wir über das Wetter. Wie nehmen wir es emotional wahr. Im ersten Teil im Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte, wie etwa die Kirche das Wetter interpretierte und etwa Blitzeinschläge instrumentalisierte. Im zweiten Teil wird das Wetter als science-fiction-artiger Nebel vor Ort sein, als Referenz zu Tarkovskis „Stalker“, „Blade Runner“, „Terminator 2 - Judgement Day“. Wetter als Metaebene.“ Der in die Vergangenheit gerichtete Blick wird nun gedreht, geschärft und die entgegengesetzte Richtung fokussiert. „Die Stral“ somit als Serie zu verstehen, als narrativer und schichtender Vorgang.
Germanns Arbeit muss vom Publikum selbst erschlossen werden
Auch Germanns Ästhetik sticht ins Auge. Der Kunstraum macht auf ersten Blick den Anschein einer Baustelle – wir sehen eine langgezogenen Haufen von Sand. Einen Golfwagen. Zwei verkabelte Stiefel. Ein immenses, geschwungenes, metallähnliches Gestell, am Fenster eine rundliche, lichtdurchlässige, lederartige Form. Dazu Kabel, Schläuche, Werkzeug. Keine Kirchenfenster, keine Verweise auf das Frühmittelalter, keine Fotografien von Blitzen. Aber auch kein kalter Science Ficiton- oder Endzeit-Look. Und es wird klar: Germanns Arbeit muss vom Publikum selbst erarbeitet und erschlossen werden, die Spuren liegen noch verdeckt, vielleicht im Sand, vielleicht in den digitalen Nebelschwaden. Er selbst beschreibt seine Ausstellung als Atmosphäre, der rein optische Eindruck greift also viel zu kurz.
Auf der Suche nach Werkzeug um uns dieses verstellte Werk zu erschliessen, blicken wir zunächst in die Biografie des Künstlers – für gewöhnlich ist das ein gefährlicher, meist sogar vollkommen falscher Ansatz. Bei Florian Germann fördert er aber mindestens einen interessanten Fakt ans Licht: Der Künstler ist ausgebildeter Steinbildhauer. Wir fragen nach: „Einige Prinzipien der Performances sind traditionelle Vorgehensweisen eines Plastikers oder Bildhauers.“, erklärt Germann und fädelt damit einen dünnen roten Faden auf. Die Aufbauten im Kunstraum dienen ihm selbst vor allem als Studio, in denen er Performances realisiert. Auch der Sand ist Bühne und Akteur zugleich „Der Sand dient mir als Reibungsfläche für meine Performance Grinder. Darin zeichnen sich Spuren meiner Handlung ab.“
Video: Die Performance «Grinder»
Kunst und Geschichte haben ein merkwürdiges, ja regelrecht angestaubtes Verhältnis. Meist vermählen sie sich zur Kunstgeschichte, schon klar und dann geht es um Strömungen und Jahreszahlen und man dreht sich im Kreis. Wie sooft. Oder die Kunst wird zum reinen Erinnerungsmittel, zum einfachen Drehschlüssel, meist im öffentlichen Raum, wo es vor sich hin vegetiert als starres Mahnmal. Oder als visuelle Tiefkühltruhe, die einen bestimmten historischen Moment konserviert – wenn möglich für alle Zeit. Viel zu selten bedient sich die Kunst hungrig und mit offenen Augen und Händen in der Geschichte, viel zu selten wühlt sie wild in den Ereigniskisten – eben weil auf das Ereignis meist eine Erkenntnis folgen muss. Neue Erkenntnisse sind für Germann indes Nebensache. Er versteht seine Arbeiten als poetisch, das ist entscheidend.
Die nackten Fakten spielen eine dumpfe Nebenrolle, die schiere Lust am ausprobieren und rumdenken rückt in der Vordergrund, ermöglicht doch und dort neue Blinkwinkel auf das zuvor umzeichnete Ereignis, das plötzlich an Post-Präsenz gewinnt und eben auch in die fiktionale Zukunft gespiegelt wird. Florian Germann schabt den Diskurs aus, sowie er früher den Stein abtrug. Und plötzlich stehen jene Stiefel (übrigens originale Requisiten der Terminator 2 Dreharbeiten), die beim Gehen Gewittersound ausstrahlen, in einer Blutlinie mit dem Einschlag ins Zürcher Münster. Einen solchen aberwitzigen, aber eben auch hochenergetischen Transfer kann nur die bildende Kunst leisten.
Wer nach historisch korrekten Faktenkonstrukten giert, ist hier falsch
Doppelt spannend wird es im Kunstraum dann, wenn Germann im Tiefparterre filmische Arbeiten zeigt, die er selbst in den 90er Jahren in Kreuzlingen umgesetzt hatte. Hier richtet sich der Blick nun auf die eigenen Geschichte und Biografie, als Unterbau, im wahrsten Sinne des Wortes, für die Religions- und Weltgeschichte, die im Stockwerk drüber angedacht und umtanzt wird. In dieser Doppellung wird der klassische Geschichtsbegriff weiter dekonstruiert. Wer nach historisch korrekten Faktenkonstrukten giert, der scheint, nein ist, hier falsch. „Die Stral“ muss und will keinen Sinn machen. Zumindest nicht mit Blick ins aufgeschlagene Geschichtsbuch.
Und hier tut sich tatsächlich ein Verweis innerhalb der Kunstraum DNA auf, denn Germanns Umgang mit der Geschichte erinnert durchaus an die Art und Weise wie Heiko Blankenstein, der Anfang des Jahres im Kunstraum ausstellte, mit Naturwissenschaft umgeht. Die Faszination für den Diskurs erscheint immanent, der Akteur umschreitet das Kernthema, umwebt es assoziativ, entwickelt ein Sinnangebot, dass wir als Rezipienten entweder annehmen oder auch negieren dürfen / sollen / wollen / müssen. Hier wird nichts vorgekaut, püriert oder gar erklärt, ein solcher Ansatz wäre ein künstlerischer Nullpunkt, eine totale Sackgasse. Viel eher wird Germanns Interpretation des Wetters zur seltsamen Schleife, die kaum noch zu entschlüsseln ist und in einem finalen Schritt vor allem auf sich selbst verweist.
Termine: Die Ausstellung «Die Stral 2» wird am 14. September, 19.30 Uhr, eröffnet. Sie ist bis 25. November 2018 zu sehen. Die Öffnungszeiten: Freitag 15 bis 20 Uhr; Samstag/Sonntag 13 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.
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