von Jeremias Heppeler, 08.10.2025
Die lyrische Urgewalt des Punkrock

Wütend, roh und lyrisch: Verbrennung 3. Grades macht Punkrock zur spirituellen Abrissbirne und ruft Hildegard von Bingen zur unerwarteten Ikone aus. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
«Ich ... Ich bin ... die Neue ... die neue Hildegard von Bingen!» – Hell yeah, genau so! Salomé Käsemodel alias Verbrennung 3. Grades hat nicht nur ein Händchen für grandiose Künstlerinnen-Namen, sondern auch ihren Abschluss an der magischen Punkrockschule für stabile Songanfänge mit Auszeichnung gemacht.
Denn es ist schon ein gottsallmächtiger Bossmove, gleich mit den ersten Zeilen der Debüt-EP Die Unsichtbare des Marktes würgt mich (ohne Konsens) ausgerechnet Hildegard von Bingen nachhaltig, theoretisch fundiert und mit der kybernetischen Energie einer Abrissbirne zur Punk-Ikone auszurufen.
Songs ohne doppelten Boden
Die Energie jagt hier aus allen Songporen, schwitzt feinsten 80er-Jahre-Post-Punk-Schweiss in den Streamingdienst deines Vertrauens. Und ihr merkt schon: Wenn sich ein Rezensent derart ins Zeug legt, merkwürdige Sprachbilder zu dreschen, dann hat ihn etwas angestachelt. Im Fall von Verbrennung 3. Grades ist es die lyrische Urgewalt des Ein-Personen-Bandprojekts, die über fünf Songs aufhorchen und aufkratzen lässt.
Genretypisch braucht es keine doppelten Böden – es reicht der naturalistische Charme der ungefilterten Sprache, wie ihn einst die frühen Tocotronic kredenzten, ehe sie mit Bedeutungen schwanger gingen. Verbrennung 3. Grades passiert das zum Glück (noch) nicht: Hier wird gerumpelt und gekleckert, hier heisst es:
«In finsteren Zeiten wird nicht gesungen / in finsteren Zeiten wird investiert» oder
«Ich werfe Steine, ihr baut Männchen draus / ich lege Feuer und ihr kehrt den Staub».
Und das macht schlicht Spass!
Reinhören: So klingt Verbrennung 3. Grades
Machen ist besser als nicht machen
Die EP trägt die urtypische Gen-Z-DIY-DNA offen zur Schau. Das bedeutet: Machen ist besser als nicht machen. Manchmal lohnt es sich, Dinge zu tun, von denen man noch gar nicht weiss, dass sie möglich sind. Viele Musiker:innen dieser Generation entlehnten diesen Ansatz den historischen Punk- und Post-Punk-Bewegungen, nur um ihn in andere Genres zu übertragen.
Verbrennung 3. Grades aber schliesst offene Linien zu einem geschlossenen Kreis: Die EP kredenzt lupenreinen 80er-Jahre-Lofi-Westberlin-NDW-Punkrock, gespickt mit direkten Zitaten auf dessen Diskurse:
«Helvetia muss sterben / damit ich leben kann» – eine Direktverknüpfung zum Slime-Song «Deutschland muss sterben» – reiht eine prägnante Line an die nächste. Und man spürt, dass Salomé auch auf Bluesky als Autorin in bester Jessica-Jurassica-Manier auftritt: kurz, prägnant, politisch, roh, zackig, dreckig, wild, cool.
Wütender Punk – genau so muss das sein
Auf musikalischer Ebene passiert das Äquivalent – vor allem im Underground-Hit «T4 Bahnhof Tiefenbrunnen», der diesem ganzen Dekonstrukt einen düsteren Schleier überwirft. Spätestens wenn alles in «In Helvetia» im aufgeschäumten «Man, wie könnt ihr es hier nicht hassen?» kulminiert, hört man förmlich die verkrampften Nasenrümpfer durchs Land knacken.
Yes, the kids im Thurgau are alright. Und sie sind wütend. Mit Verbrennung 3. Grades haben sie den idealen Soundtrack dazu – fürs Wütendsein oder auf den Boden spucken. Oder Kräutersammeln.

«Ich hab tausend Notizen auf dem Handy»
Im Interview erklärt Salomé Käsemodel aka Verbrennung 3. Grades, wie die EP entstanden ist, was sie bei ihrer Arbeit inspiriert und was sie mit Hildegard von Bingen verbindet.
Wie kam es zu dieser EP?
Im Juli 2023 habe ich meine Schwester in Südostasien besucht und war danach zehn Tage allein in einer winzigen Hütte auf einer Insel in Thailand. Nur lesen, schreiben, Chang-Bier trinken und Kippen rauchen. Probably die zehn besten Tage meines Lebens. In dieser Zeit bin ich nachts in so einen „Frontal-in-die-Fresse-Punk-Mode“ gekommen, weil ich irgendwie Abwärts, KFC und Hans-A-Plast gehört habe. Aus dieser nächtlichen Arroganz heraus ist dann der Text entstanden. Den habe ich einfach auf den Rhythmus von „Computerstaat“ getextet, in fünf Minuten runtergeschrieben. Inhaltlich kompletter Nonsense, aber dadurch ist es so ein cleaner Punk-Banger geworden, der mir auch die Richtung für die EP aufgezeigt hat. Oder zumindest, wo ich anfangs dachte, dass ich mit meiner Musik hinwill.
Was ist deine Beziehung zu Hildegard von Bingen?
Hildegard von Bingen begleitet mich schon lange. Ich bin erzkatholisch aufgewachsen. Wir sind als Kinder in den Ferien ins Kloster gefahren, haben zuhause gebetet – wie man sich das eben vorstellt. Diese Nähe zum Katholizismus ist bis heute da. Ich drehe gerade zum Beispiel auch einen Film, der in einem Kloster spielt. HvB war anfangs irgendein random Rabbit Hole, unter anderem ausgelöst durch Devendra Banharts Song „Hildegard von Bingen“ (auch ein Banger). Je länger man sich mit ihr beschäftigt, desto faszinierender wird’s: Sie war Musikerin, Universalgelehrte, Kräuterhexe, hatte unglaublich viel Macht und war eigentlich ein feministisches Icon des Mittelalters. Sie hat als Erste den weiblichen Orgasmus beschrieben, obskure Musik gemacht, war insgesamt einfach extrem inspirierend. Dazu kommen für mich lowkey queere Vibes.
Mir war wichtig, mich verletzlicher zu zeigen, statt mich hinter Humor zu verstecken.
Salomé Käsemodel aka Verbrennung 3. Grades
Die Lyrics sind sehr präsent auf der EP. Wie textest du genau?
Ich habe ehrlich gesagt noch zu wenige Songs geschrieben, um sagen zu können, dass ich einen festen Workflow hätte. Aber ich texte eigentlich ständig – meistens in Form von Skeets auf Bluesky. Ich habe tausend Notizen auf meinem Handy mit Worten, Sätzen und Witzen. Ich liebe einfach Sprache, ob kompliziert oder simpel. Im Internet bin ich sonst eher witzig und zynisch, aber das wollte ich für meine Musik nicht. Mir war wichtig, mich verletzlicher zu zeigen, statt mich hinter Humor zu verstecken. Deswegen auch Deutsch – das fühlt sich automatisch viel direkter an als Englisch. Klassisch habe ich auch ein kleines schwarzes Notizbuch, das ich immer dabeihabe. Am besten schreibe ich im Zug, ich liebe Zugfahren. Ich fahre oft nach Berlin oder Leipzig, acht Stunden nur rausschauen, träumen, schreiben – diese Zeit ist mir heilig. Ich komme ursprünglich stark aus einer Reim-Struktur, mir fällt es schwer, unsaubere Reime zuzulassen. Ich liebe Struktur und Ordnung. Gleichzeitig mag ich Texte, die wirr sind und keinen Sinn machen. Meistens steht bei mir der Text vor der Musik – aber ich habe auch Bock, in Zukunft mal genau umgekehrt zu arbeiten.
Die Drums auf der EP sind genial, superpräsent, oft im Vordergrund und total zentral fürs Soundbild. Wie kam das?
Merci! Ich liebe einfach gute Drums, damit steht und fällt alles. Mir war wichtig, dass es knallt. Meine Lieblingsdrums sind die am Ende von „Für M.“ – die wollte ich unbedingt so haben wie bei Bloc Partys „The Peace Offering“. Sonst haben wir viel mit alten Swans-Referenzen gearbeitet, zum Beispiel „Mother_Father“ – wie geil sind diese Drums bitte?! Ich bin auch riesiger Oh-Sees-Fan und träume davon, irgendwann live in einer Band mit mehreren Drums zu spielen. Rational erklären kann ich’s nicht – es war einfach Intuition, Geschmack und Bock.
Mit Raphael Bella gibt’s noch eine Person in den Credits – aber insgesamt bist du sozusagen eine Ein-Personen-Band?
Den Winter 23/24 habe ich allein in der Hütte von Dagobert, einem guten Freund von mir, in den Bergen verbracht. Sechs Wochen Isolation – ich mag sowas, weil ich sonst sehr unstrukturiert und leicht abgelenkt bin. Mein Plan war, mir in dieser Zeit Gitarre und Ableton beizubringen. Ich hatte schon Texte, unter anderem „Hildegard von Bingen“, und wollte die selbst vertonen. Aber die Einsamkeit hat mich auch gelähmt, und mit Ableton bin ich nicht so weit gekommen, wie ich gehofft hatte. Irgendwann habe ich gemerkt: Es ist viel besser, mit einer Produzent:in zusammenzuarbeiten. Ich war einfach noch nicht gut genug, um alles allein zu produzieren – sonst hätte ich Jahre gebraucht. Zum Glück kenne ich Raphael Bella, einen guten Freund aus Leipzig, den man u. a. von der Nils-Keppel-Band oder seinen eigenen Projekten kennt. Von Mai 2024 bis Mai 2025 bin ich etwa einmal im Monat nach Leipzig gefahren, und wir haben zusammen an der EP gearbeitet. Meistens hatte ich einen Text und eine Idee für die Drums, plus so zehn Referenzsongs, idk. Wir mussten uns einspielen, weil wir beide stur sind und starke Meinungen haben – aber das war auch gut so.
Vielleicht ist das auch so ein Gen-Z-Ding: Fick Genres. Ich mache einfach, was ich mache.
Salomé Käsemodel aka Verbrennung 3. Grades
„Für M.“ sticht schon sehr raus – was ist deine Gefühlslage dazu?
Ich habe lange überlegt, ob ich den überhaupt auf die EP packe. Mein ursprüngliches Ziel war eine rudimentäre, wütende, Anti-Männer-Deutschpunk-EP – das ist nicht passiert, und das ist auch okay so. „Für M.“ passt null drauf, aber er bedeutet mir am meisten und ist wahrscheinlich der ehrlichste Song. Ich habe ihn in einer Nacht im leeren Haus meiner Oma im Kanton Luzern geschrieben, wo ich ein paar Wochen verbracht habe, direkt nach der Isolationszeit in Dagoberts Hütte. Da geht’s um eine wichtige Person in meinem Leben, die chronisch depressiv ist. Jemand, den ich über alles liebe – was aber natürlich mega schwierig ist. Trotzdem finde ich den Song hoffnungsvoll – eigentlich ist er eine Liebeserklärung. Am Ende denke ich mir auch: scheiss auf Konsequenz bei einer EP. Es ist meine erste EP, ich weiss noch gar nicht, was für Musik ich machen will oder kann. Ich habe kein „konsequentes Soundbild“, das ich einhalten müsste. Vielleicht ist das auch so ein Gen-Z-Ding: Fick Genres. Ich mache einfach, was ich mache. Man kann den Song ja skippen.
Reinhören: So klingt „Für M.“

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