von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 24.06.2021
Traut dem Publikum mehr zu!
Welche Kultur soll gefördert werden? Und wozu braucht es heute eigentlich noch Kulturpolitik? Die Kulturwissenschaftlerin Theres Inauen über Gerechtigkeit, Black Boxes und Lehren aus der Corona-Zeit. (Lesedauer: ca. 7 Minuten)
Frau Inauen, reden wir über Kulturförderung. Die kann es im Prinzip immer nur falsch machen. Irgendwer beschwert sich am Ende immer über die Auswahl. Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?
Einen möglichen Weg sehe ich darin, Entscheidungsprozesse besser nachvollziehbar zu machen. Damit meine ich nicht, dass plötzlich alle Jurydiskussionen öffentlich geführt werden müssten. Vielmehr wäre zu thematisieren, wie innerhalb einer Förderinstitution immer wieder verhandelt wird, wie solche Auswahlprozesse ablaufen können – und dass sich diese ja durchaus auch verändern.
Wie könnte man Kulturförderung denn gerechter machen?
Gegenfrage: Was bedeutet denn „gerecht“? Wenn eine Jury alle eingegebenen Projekte ausführlich diskutiert und sich schliesslich für eines entscheidet? Wäre es gerechter, wenn bei vergleichbaren Projekteingaben am Schluss einfach das Los entscheidet? Ist ein Mehrheitsentscheid gerecht? Oder ist es gerecht, wenn nach einem Ausschlussverfahren entlang enger Kriterien ausgewählt wird? Gerechtigkeit in der Kulturförderung ist letztlich immer eine Verhandlungs- und Definitionsfrage.
Und damit auch eine Machtfrage.
Das spielt natürlich rein: Wer hat überhaupt die Möglichkeit, bei solchen Verhandlungen mitzutun, Kriterien mitzubestimmen und förderwürdige Projekte auszuwählen? Schliesslich geht es dabei darum, welcher Kultur per Förderung Sichtbarkeit verliehen wird und welche Inhalte und Positionen unsichtbar bleiben.
„Gerechtigkeit in der Kulturförderung ist letztlich immer eine Verhandlungs- und Definitionsfrage.“
Theres Inauen, Kulturwissenschaftlerin (Bild: zVg)
Gerechtigkeitsempfinden ist immer subjektiv. Gibt es trotzdem Wege, Entscheidungen nachvollziehbarer und transparenter zu machen?
Heisst denn mehr Transparenz automatische mehr Gerechtigkeit? Häufig findet Kulturförderung in einer Art Black Box statt. Klar, insbesondere die öffentliche Hand muss Kriterien und Prozesse der Förderung transparent kommunizieren. Mit dieser Art von Transparenz wird aber möglicherweise noch keine bessere Nachvollziehbarkeit der Förderentscheide gewährleistet. Anstatt mit ausführlichen Kriterienkatalogen eine Art Objektivität herzustellen, scheint es mir viel wichtiger, die Gründe für Schwerpunktsetzungen nachvollziehbar zu thematisieren. Wenn beispielsweise erklärt wird, dass mit einer bestimmten Fördergeldsumme sinnvollerweise wenige Projekte substanziell unterstützt werden, anstatt viele mit minimalen Beiträgen, ist ein Entscheid sicher schon mal anders gerahmt.
Mal anders gefragt: Kann Gerechtigkeit überhaupt eine Kategorie bei Kulturförderung sein? Eigentlich sollte es ja um so etwas wie eine künstlerische Leistung gehen.
Die Frage nach der Gerechtigkeit kann schon den Blick auf das verstellen, worum es eigentlich geht in der Kulturförderung. Dennoch scheint mir die Frage nach den Wegen und Zielen von Kulturförderung schon legitim: Kulturpolitik und Kulturförderung sind ja immer auch mit gesellschaftspolitischen Zielen verknüpft. Je nach Kulturförderakteur*in – sei es eine Stiftung, eine Mäzenin oder der Staat – sind die Interessen, Kultur zu fördern, verschieden. Zielt eine Förderinstitution auf die Förderung einer herausragenden künstlerischen Leistung ab? Möchte sie Laborräume für Neues eröffnen? Oder geht es ihr um die Aufrechterhaltung einer Nischenkultur? Je nach Ziel sind die Wege anders, und es verschiebt sich auch die Diskussion um gerechte Förderung.
„Expertise definiert sich nicht nur aufgrund von Fachwissen, sondern auch aufgrund biografischer Erfahrungen oder gesellschaftlicher Positionierungen.“
Theres Inauen
Was soll Kulturförderung heute überhaupt leisten?
Kultur entsteht im Kontext von Gesellschaft im Wandel. Kulturförderung sollte sensibilisiert sein für gegenwärtige Prozesse gesellschaftlichen Wandels und diejenige Kultur fördern, die diese durchaus herausfordernden Prozesse mitgestaltet, sie befragt, kommentiert und reflektiert. Ich wünschte mir, dass die Förderung von Kultur heute immer weniger in einem kleinen, relativ geschlossenen Feld von Expert*innen geschieht, sondern die Verhandlung über die „relevante“ Kultur für die heutige Gesellschaft möglichst offen und breit geführt wird.
Aber was ist ein Wettbewerb noch wert, wenn jeder mitreden und nach Gefühl und Geschmack urteilen kann, was gut ist und was schlecht ist? Höhlt man damit nicht das Expertenwissen aus?
Kulturförderung, die einer vielfältigen Gesellschaft „gerecht“ werden will – hier komme ich auf die vorhin diskutierte Kategorie nochmals zurück – sollte bestimmte Sichtweisen nicht einfach als „Geschmack“ abwerten. Ich finde es zu kurz gegriffen, wenn der breiten Bevölkerung eine differenzierte Urteilsfähigkeit in der Sache Kultur abgesprochen wird und nur ausgewiesene Expert*innen mitdiskutieren können. Anstatt unterhaltsame Wettbewerbe bräuchte es viel mehr ernst gemeinte Verhandlungstische.
Andererseits: Wenn Kunst mal mehrheitsfähig ist, braucht es keine Kulturförderung mehr.
Das ist ein schwieriges Argument: Der Einbezug von Publikum muss ja nicht nur heissen, einen Voting-Button zu drücken, sondern kann auch bedeuten, das Publikum ernst zu nehmen, zu respektieren, dass im Publikum differenziertere Qualitätskriterien vorhanden sind als bloss „finde ich schön“, „finde ich nicht schön“, „Daumen hoch/Daumen runter“.
„Kulturförderung sollte sensibilisiert sein für gegenwärtige Prozesse gesellschaftlichen Wandels und diejenige Kultur fördern, die diese durchaus herausfordernden Prozesse mitgestaltet.“
Theres Inauen
Wie sieht denn aus Ihrer Sicht ein idealer Kulturförderprozess aus?
Zeitgemässe Kulturförderung ist für mich diejenige Kulturförderung, die sich konsequent selbst mitthematisiert und nicht nur im eigenen geschützten Kosmos stattfindet. Was am Schluss gefördert wird, ist für mich erstmal zweitrangig; erst gilt es die Förderstrukturen in den Blick zu nehmen: Dort würde ich mir wünschen, dass neue Positionen dazu kommen, damit neue Diskussionen entstehen können, auch neue Diskussionen über Qualitätskriterien oder über Verfahren.
Wie könnte das konkret aussehen?
Förderinstitutionen sollten es zum Beispiel wagen Expert*innengremien anders zu besetzen. Dabei gilt es die Frage von Expertise mutig neu zu denken. Also zu sagen, Expertise definiert sich nicht nur aufgrund von Fachwissen, sondern auch aufgrund biografischer Erfahrungen oder gesellschaftlicher Positionierungen. Aus vielfältigen Perspektiven werden Projekte bestimmt anders diskutiert und beurteilt.
Das finde ich schwierig. In der Kultur bemüht man sich seit Jahrzehnten um einigermassen objektivierbare Kriterien zur Bewertung von Kulturschaffen. Und jetzt soll plötzlich die Lebenserfahrung wichtiger sein als das Fachwissen?
Es geht ja nicht darum, Lebenserfahrung wichtiger zu stellen als Fachwissen. Aber vermutlich können neue Diskussionen erst entstehen, wenn die etablierten Runden etwas aufgebrochen und die einmal festgelegten Kriterien immer wieder neu verhandelt werden.
„Anstatt unterhaltsame Wettbewerbe bräuchte es viel mehr ernst gemeinte Verhandlungstische.“
Theres Inauen
Der Kulturbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt: Wie kann, und vielleicht sogar muss, Kulturförderung darauf reagieren?
Kulturförderung muss sich auf jeden Fall positionieren. Es scheint mir weiterhin legitim, wenn eine Stiftung exklusiv eine Art von Musik fördert, weil ihr das wichtig ist, um eine bestimmte Nische am Leben zu halten. Genauso legitim ist es zu sagen, wir begleiten mit unserer Kulturförderung gesellschaftlichen Wandel, indem wir innovative, noch nicht gänzlich absehbare Projekte fördern. Öffentliche wie private Förderinstitutionen müssen die Frage beantworten, wie sie sich zum gesellschaftlichen Wandel und dem Wandel des Kulturbegriffs stellen wollen: Wollen sie diesen mitgestalten und neue Felder ausloten? Welche gesellschaftliche Relevanz soll ihre Fördertätigkeit haben?
Wie sehr müssen sich Institutionen da auch selbst hinterfragen?
Darum kommen sie wohl nicht rum. Sich mit Wandel auseinanderzusetzen bedeutet einerseits über inhaltliche Gewichtungen nachzudenken: Wie wird das Geld verteilt? Und entspricht die heutige Verteilung dem Wandel des Kulturschaffens? Beispielsweise sind die Mittel, mit denen Pop- oder Volkskultur gefördert werden, weiterhin marginal im Vergleich zur Finanzierung der klassischen Institutionen – Opernhäuser, Theater, Museen. Aber es geht eben nicht nur darum, was gefördert wird, sondern auch wer fördert – es geht also auch um strukturelle Fragen.
Wie bekommt man diesen Veränderungswillen in eher veränderungsresistente Strukturen wie bürokratische Kulturverwaltungen?
Tja, gute Frage. Ich denke, dass es viel Mut von einzelnen Akteur*innen in diesem Feld braucht, etablierte Formen und Abläufe zu verändern.
„Ich wünschte mir, dass die Förderung von Kultur heute immer weniger in einem kleinen, relativ geschlossenen Feld von Expert*innen geschieht, sondern die Verhandlung über die „relevante“ Kultur für die heutige Gesellschaft möglichst offen und breit geführt wird.“
Theres Inauen
Wer etwas wagt, der muss sich auch auf Kritik einstellen. Das konnte man auch erleben bei der Debatte um die neue Initiative Ratartouille der Kulturstiftung. Dass das Publikum in die Entscheidung über Kulturförderung einbezogen wird, fanden nicht alle gut. Wie haben Sie diese Diskussion erlebt?
Ich konnte die Kritik auf den ersten Blick absolut nachvollziehen. Es ging ja um die verständliche Frage, wie viel Partizipation es in der Kulturförderung verträgt. Bei solchen partizipativen Prozessen stellt sich immer die Frage, wie offen diese gestaltet sind und was diese beabsichtigen. Bei Ratartouille fand ich es spannend, dass die Kulturstiftung sagte: Wir wagen das, lancieren ein neues Format und lassen das Publikum nicht nur abstimmen, sondern starten auch eine öffentliche Debatte darüber, welches kulturelle Format wir eigentlich ganz konkret bei uns im Kanton brauchen. Es ist ein mutiger Versuch, der sich auf alle Fälle lohnt – weil er eben eine Diskussion anstösst.
Manche sagen: Partizipation ist auch nur so eine Mode, die wieder vergeht.
Ja, aktuell taucht Partizipation in vielen Kontexten als Imperativ auf – auch in der Kulturförderung –, und da sind kritische Fragen sicher angebracht. Ich wünschte mir, dass, wenn Partizipation gerufen wird, diese auch möglichst konsequent umgesetzt würde. Dann muss man sich als Institution aber auch darauf einstellen, dass das Ergebnis ganz anders sein kann, als man es sich vielleicht gewünscht hat; ein stückweit gibt man die gewohnte Kontrolle aus der Hand. Für mich gehört zu so einerm Prozess auch dazu, dass man abschliessend öffentlich darüber reflektiert, was das partizipative Format leisten konnte und wo dessen Grenzen sichtbar wurden. Kulturförderung versteht sich in dem Sinne als ein fortlaufendes Experimentieren und Lernen. Idealerweise verschieben sich in solchen Prozessen eben auch die etablierten Rollen.
„Ich wünschte mir, dass, wenn Partizipation gerufen wird, diese auch möglichst konsequent umgesetzt würde.“
Theres Inauen
Kulturförderung ist nur ein Instrument von Kulturpolitik – wozu braucht es heute sonst noch Kulturpolitik?
Kulturpolitik schafft mit verschiedenen Instrumenten den Rahmen dafür, dass mittels Kultur das Nachdenken und Mitgestalten von Gesellschaft und Welt stattfinden kann – mit einem sensiblen Umgang mit dem Erbe aus der Vergangenheit, mit einem feinen Gespür für das Zeitgeschehen und viel Offenheit für Entwicklungen, die in die Zukunft weisen. Dazu gehören neben Kulturförderung im engen Sinne auch kulturelle Bildung, Kulturgüterschutz oder Fragen der sozialen Sicherheit von Kulturschaffenden und vieles mehr.
Trotzdem hat man immer wieder das Gefühl, dass Kulturpolitik als Aufgabe nicht richtig ernst genommen wird, sondern eher als wenig relevante Nebenbeschäftigung verstanden wird.
Was mir in vielen Gesprächen stark auffällt, ist, dass Kulturpolitik häufig als vom eigenen Alltag weit entfernte Sphäre wahrgenommen wird; Kulturpolitik wird in einem kleinen geschlossenen Zirkel von Expert*innen verortet.
„Kulturpolitik schafft mit verschiedenen Instrumenten den Rahmen dafür, dass mittels Kultur das Nachdenken und Mitgestalten von Gesellschaft und Welt stattfinden kann.“
Theres Inauen
Ist die Corona-Zeit in der Hinsicht vielleicht auch eine Chance, Dinge aus dem Kulturbetrieb besser zu erklären? Damit der gesamte Bereich näher zu den Menschen rückt?
Ich denke schon. Die Corona-Zeit hat ganz viel von dem, was sonst hinter den Kulissen und ganz selbstverständlich abläuft, nach vorne gestülpt. Dass im Laufe des letzten Jahres so viel über das grosse Bedürfnis nach einem vielfältigen Kulturleben geredet, über prekäre Arbeitswelten in der Kultur diskutiert und über ein Grundeinkommen für Kunstschaffende nachgedacht wurde, wirkt sich hoffentlich auch auf (kultur-)politische Entscheidungen in der Zukunft aus.
Zum Abschluss: Was hat Ihnen gefehlt in den vergangenen Monaten?
Ich habe mich oft gefragt: Was macht mein Leben in einer Stadt lebenswert, wenn das ganze Kulturleben fehlt? Und damit meine ich nicht nur die klassischen Kulturorte wie Theater und Museen, sondern denke auch an die Bar mit einem Kulturprogramm, die Aktionen im Kunstraum im Quartier, die Musiker*innen auf der Strasse usw. Das alles schafft wertvolle Begegnungen und prägt die Wahrnehmung und Nutzung von öffentlichen Raum mit. Viele haben das vermisst. Meine Hoffnung ist, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit solcher alltäglicher Kulturorte und Kulturmomente gewachsen ist und sich daraus langfristig eine neue Wertschätzung für das Kulturschaffen und Kulturengagement von so vielen Menschen ergibt.
„Öffentliche wie private Förderinstitutionen müssen die Frage beantworten, wie sie sich zum gesellschaftlichen Wandel und dem Wandel des Kulturbegriffs stellen wollen.“
Theres Inauen
Zur Person: Theres Inauen
Theres Inauen (*1985) ist in Appenzell aufgewachsen und lebt in Basel. Sie studierte Kulturanthropologie und Kunstgeschichte an der Universität Basel und war von 2014 bis 2019 wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel, aktuell ist sie Lehrbeauftragte an der Universität Basel sowie an der Hochschule Luzern Design & Kunst.
In ihrem Dissertationsprojekt begleitet sie den Aufbau der Schweizer Stiftung Erbprozent Kultur und fragt nach gegenwärtigen Veränderungsprozessen im Feld der Kulturförderung. Neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kulturpolitischen Themen engagiert sie sich in verschiedenen Kulturprojekten: dem interdisziplinären Festival Kulturlandsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden, dem Wissensportal AppenzellDigital., HUMBUG, Veranstaltungshalle für Live-Kultur in Basel und anderen.
Für die Kulturstiftung des Kantons Thurgau sass sie in der Jury des neu ausgeschriebenen Wettbewerbs «Ratartouille».
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Kommt vor in diesen Ressorts
- Kulturpolitik
Kommt vor in diesen Interessen
- Interview
- Kulturförderung
- Kulturvermittlung
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