von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 27.03.2024
Pixel in Pink
Kunst ist immer dann besonders gut, wenn sie Grenzen verschiebt und Neues wagt. Olga Titus gelingt das in ihrer Ausstellung „Das ausgebrochene Pixel“ im Kunstmuseum Thurgau auf fantastische Weise. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Expert:innen zu befragen ist immer ein guter erster Schritt, um Dinge begreifen zu können. Fragt man also in diesem Sinne auf der Suche nach Antworten, den Verband österreichischer Höhlenforscher, wie denn dieser wundersame Raum zu bezeichnen sei, der da im Kellergewölbe des ehemaligen Kartäuserklosters in Ittingen entstanden ist - so erhält man in einem Papier der Höhlenforscher eine klare Antwort. Am ehesten sei dies wohl als „Grotte“ zu bezeichnen. Denn anders als Höhlen können Grotten auch künstliche Objekt beinhalten, so die Definition der geologischen Expert:innen.
Und das ergibt ja auch total Sinn, wenn man den Raum mal gesehen hat: Pinkfarbener, flauschiger Teppich auf dem Boden, wild, wirr und bunt bedruckte Tapete an den Wänden, sphärische Klänge aus den Lautsprechern und mitten im Raum gleichmässig verteilt sechs überdimensionierte, ebenfalls bunt bedruckte Stoffbahnen, die Stalagmiten-ähnlich in die Höhe wachsen - was sonst als eine Grotte sollte dieser verwunschene Ort im pink-violetten Dämmerlicht sein?
Selten wurde der Raum stimmiger bespielt
Tatsächlich ist es die neueste Kreation aus dem sehr schlauen Kopf der im Thurgau (exakter: Sulgen) aufgewachsenen Künstlerin Olga Titus (*1977). Die Grotte ist das Herzstück ihrer neuen Ausstellung „Das ausgebrochene Pixel“ im Kunstmuseum Thurgau, und selten hat ein Kunstwerk diesen Raum wohl stimmiger bespielt, als es der inzwischen in Winterthur beheimateten Künstlerin gelingt. Der Schritt in diesen mit beruhigender (oder einlullender? das ist schon der Kern einer der vielen Fragen, die die Arbeit den Betrachter:innen stellt) Klangschalen-Akustik angefüllten Raum eröffnet eine neue Welt. Im dämmrigen Pink der Grotte gibt es viel zu entdecken. Die Tapete an den Wänden und die stoffgewordenen Stalagmiten zeigen verschiedene Motive: Rosa Stiefel, Pandabären, Fliegenpilze, weisse Stoffhäschen, denen kleine Palmen aus ihren Schenkeln wachsen und Äpfel. Knallrote, knackig aussehende Äpfel.
Dazwischen viel Buntes und einige Leerstellen. Das sind die der Ausstellung den Titel gebenden „ausgebrochenen Pixel“, diese Lücken sind aber nicht einfach nur leer, sondern auch sie schimmern bunt. Wenn man genau hinschaut, kann man sich selbst darin verzerrt und verschwommen erkennen. Das alles zusammen ist ein sehr unterhaltsames und hintersinniges Spiel. Denn wer Grotte sagt, der hat natürlich auch den ganzen kultur- und kunsthistorischen Hintergrund dazu im Schlepptau. Die Grotte als Ort, in dem sich mythische Wesen wie Nymphen aufhalten, beispielsweise. Ein auf seine Art heiliger Ort, der Geheimnisse und Wahrheiten beherbergt.
Ein Ort der Mythologie und Gesellschaftskritik
Wenn Olga Titus nun ausgerechnet in einer solchen Umgebung popkulturelle Phänomene socialmediagerecht und memegleich auftauchen lässt, dann ist das eben nicht nur buntes Spektakel, sondern auch eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Die andauernden 24/7-Huldigungen des Pixelgottes spiegeln am Ende nur die Leere in uns selbst. Das ist in seiner Botschaft zwar nicht neu, aber in der ausufernden Expressivität, in der es Olga Titus hier vorträgt, doch ziemlich eindrücklich. Auch weil die Künstlerin souverän die Atmosphäre im Uneindeutigen hält: Raum und Werk verschmelzen und kreieren einen Ort, der auf verwirrende Art gleichzeitig Behaglichkeit und Gefahr ausstrahlt.
Neben dieser überwältigenden Rauminstallation gibt Olga Titus im Thurgauer Kunstmuseum weitere Einblicke in ihr Werk. Zum Beispiel mit den immer noch faszinierenden Paillettenbildern, die sie auch schon im Eisenwerk oder dem Kunstraum Kreuzlingen gezeigt hat. Im Kellergewölbe des Kunstmuseums wachsen diese Arbeiten aber - schon rein vom Format - über sich hinaus. Die Motive entwirft Olga Titus am Computer. Gefertigt werden die Bilder mit den tausenden Pailletten industriell. Vorder- und Rückseite der einzelnen Pailletten sind unterschiedlich in Farbe und Farbstärke bedruckt.
In früheren Ausstellungen durften auch die Besucher:innen die Werke streicheln und so eigene Spuren hinterlassen. Im Kunstmuseum ist dies nun ausdrücklich nicht erlaubt, was schade ist, weil es die Arbeiten ein Stück weit um das ihnen innewohnende interaktive Element beraubt. Die schiere Grösse der Arbeiten bleibt aber nichtsdestotrotz beeindruckend.
Zeitgeistige Verschmelzung von Kunstformen
Noch spannender sind allerdings die so genannten Lentikulardrucke, die Titus zu Beginn der Ausstellung zeigt. Besser bekannt sind sie wahrscheinlich als Wackelbilder, wie es sie auch heute noch auf Postkarten gibt. Durch Hin- und Herbewegen der Postkarten eröffnen sich dreidimensionale Räume auf den doch eigentlich flachen Karten, Bewegungen werden simuliert.
Olga Titus übersetzt auch dieses Format in eine ausstellungsgerechte Grösse. Die hochformatigen Werke locken einen mit ihrer expressiven Farbigkeit an, um dann bei näherer Betrachtung mehrere hintereinander liegende Bildschichten zu eröffnen, die verblüffend plastisch wirken. So läuft man vor den Bildern auf und ab und entdeckt bei jedem Gang neue Szenen. Kuratorisch ist das ein ziemlich klug gesetzter Auftakt, weil es die Besucher:innen ohne Umschweife in die faszinierenden Bilderwelten von Olga Titus hineinzieht.
In dem Takt geht es in den folgenden Werken weiter: Bild um Bild gelingt es der Künstlerin, die Momente der Irritation zu steigern, so dass man sich als Betrachter irgendwann fragt: Sehe ich das jetzt wirklich oder ist das nur in meinem Kopf? Eine Methode, mit der Olga Titus dies gelingt, ist die Integration von Bewegtbildern in ihre Werke. Sie tauchen auf wie ein Rauschen in einer der vielschichtigen Dimensionen der Wackelbilder und setzen sich dann im Auge des Betrachters fest.
Warum Olga Titus längst eine der spannendsten Schweizer Künstlerinnen ist
Einmal, zweimal, dreimal hingeschaut und schliesslich beruhigt festgestellt, dass das Bewegtbild wirklich da ist und man nicht schon nach dem Betrachten zweier Olga-Titus-Werken komplett verrückt ist. Kurze Nachfrage bei der Künstlerin: Wie funktioniert das? Sie antwortet via Instagram-Messenger: „Ich habe einen 4 Millimeter schmalen Bildschirm integriert in das Bild. Das kann recht irritierend wirken, auch weil es nicht auf den ersten Blick sichtbar ist“, erklärt Olga Titus.
Die Art und Weise, wie die Künstlerin hier sehr zeitgeistig verschiedene Kunstformen kombiniert und typisch digitale Kommunikationsmedien gif-gleich in ein analoges Ausstellungsformat schmuggelt, ist verblüffend und clever zugleich. Es offenbart, weshalb Olga Titus inzwischen eine der spannendsten Künstlerinnen in der Schweiz ist: Sie hat immer den Mut, Neues zu wagen und Grenzen zu verschieben.
Immer auf der Suche nach neuen Welten
Vielleicht liegt hier auch noch eine Parallele zu den eingangs erwähnten Höhlenforschern. Die geben auch nicht auf, sobald sie eine neue Grotte gefunden haben. Jede neue Grotte ist lediglich die Ausgangsstation für die nächste Expedition. Sowohl bei Olga Titus als auch bei den Höhlenforschern geht es vielmehr darum, immer wieder neue Welten zu erforschen in einem weit verzweigten System. Für die einen sind es unterirdische Höhlen, für die andere die unendlichen Möglichkeiten der Kunst.
Die Ausstellung Das ausgebrochene Pixel ist noch bis 15. Dezember im Kunstmuseum Thurgau zu sehen. Es gibt ein umfangreiches Rahmenprogramm. Die Öffnungszeiten lauten:
Noch bis 30. April und ab Oktober wieder
Montag bis Freitag: 14 – 17 Uhr
Samstag, Sonntag, Feiertag: 11 – 17 Uhr
Vom 1. Mai bis 30. September
Täglich 11 – 18 Uhr
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