von Inka Grabowsky, 13.11.2023
Multidimensionales Heim-Weh
Das «Laboratorium für Artenschutz» der Kreuzlingerin Micha Stuhlmann nähert sich mit «Heim*Weh» einem Gefühl, das für jede:n etwas anderes bedeutet. Das integrative Ensemble schafft gemeinsam mit dem Tonkünstler Marc Jenny und den Lichtkünstlern Till Schneider und Raphael Zürcher eine interdisziplinäre Performance. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Micha Stuhlmann lässt ihr Publikum nicht allein. Jede:r der 50 Personen, die bei der Premiere im Kreuzlinger Kult-X durch den Vorhang aus «Heim*Weh» Fahnen treten darf, wird persönlich begrüsst und nennt seinen Vornamen. Und kaum hat man sich in den beiden Stuhlreihen, die eine Art Laufsteg umgeben, einen Platz gesucht, gibt sie Orientierung: «Erst machen wir eine einstündige Performance, dann habt ihr eine halbe Stunde, um unsere Installationen zu erleben, und dann gibt es zum Abschluss noch eine kurze Performance.»
Von langer Hand vorbereitet
Stuhlmanns «Laboratorium für Artenschutz» hat seit vergangenem Jahr an der Vorstellung gearbeitet. Das zwölfköpfige Ensemble aus Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen hat quasi das Rahmenprogramm vorgezogen, um es zur Recherche zu nutzen. Im August beispielsweise bat sie die Besucher:innen des Kreuzlinger «Open Place» um ihre Gedanken zum Thema Heimweh. Ausserdem verteilte sie über 200 vorfrankierte Postkarten diesseits und jenseits der Grenze, auf denen jede:r eine Skizze oder einen Spruch beitragen konnte. Sie sind inzwischen Teil der Ausstellung. Das Thema wurde durch die Recherche breiter gefasst: «Wir untersuchen Einsamkeit und Verbundenheit unter dem Aspekt des Heimat-Verständnisses», heisst es.
Ausgehend vom Schweizer Klischee
Im Kult-X ziehen die Performer:innen zum Geläut von Kuhglocken in den Bühnenraum ein. Kunstnebel und dämmriges Licht verstärken den Eindruck, im Morgengrauen einem Alpaufzug beizuwohnen. Und als die Menschen dann noch anfangen zu jodeln, hat man das erste Heimweh-Klischee im Kopf. Micha Stuhlmann liest, rezitiert und singt Gedanken zu Begriffen wie «Haus», «Heim» oder «Zuhause». Vom Sound-Künstler Marc Jenny werden sie aufgenommen und als Echo wieder zugemischt. Micha Stuhlmann endet mit dem Arbeiterlied «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit» – und dann machen sich sechs Tänzer:innen tatsächlich auf den Weg: Zum Geräusch von Herzklopfen bilden sich Paare, die sich winden, aneinanderklammern, umarmen.
Visuelle Effekte
Während des Auftrittes spielt das Licht eine grosse Rolle. Raphael Zürcher und Till Schneider sind für die Effekte verantwortlich. Sie projizieren die Zeichen an die Wand, zu denen Micha Stuhlmann zur Welt, Zwischenwelt und der persönlichen Welt im eigenen Körper philosophiert.
Passiv konsumieren unmöglich
Im Verlauf der Performance wechseln sich Text-Rezitationen und Bewegungselemente ab. Das Thema gibt den roten Faden: Es geht um menschliche Nähe und Zurückweisung. Die Aktiven locken das Publikum an, um es dann doch wieder mit Gesten auf Abstand zu halten. Auch sprachlich werden die Umsitzenden einbezogen. Sie dürfen ihre persönliche Assoziation zu «Heimweh» ins Mikrofon sprechen. Die Antworten reichen von «in mir», über «nie gehabt» bis zu «Meer», «Berge» oder «Wald».
Installationen vertiefen
Alle Sinne spricht das Laboratorium für Artenschutz mit der 13-teiligen Installation an, die nach einer Stunde eröffnet wird. Nicht ohne Humor präsentieren die Künstler:innen Lehm-Guetzli als eine Variante der Heimat-Erde. «Als Kind habe ich die tatsächlich gegessen», lacht eine Besucherin. Gegenüber gilt es, Wasserproben geschmacklich auseinanderzuhalten. Weniger amüsant ist der Klagekörper: Ein Ensemble-Mitglied stellt seine Haut zur Verfügung, damit man dort mit Kajal-Stift Klagen loswerden kann. Während sich eine Station weiter Kunstinteressierte mittels Virtual-Reality-Brille in die Schicksale einsamer Protagonisten versetzen, betrachten andere den Altar der Lebensdinge, die Ensemblemitglieder gesammelt haben. Der Brummkreisel und die alte Eieruhr werden gerne noch einmal in Aktion gesetzt.
Hier ist niemand allein
«Du bist nicht allein», der Schlager aus den 60er-Jahren setzt den Ohrwurm für das Finale. Zum einen defilieren die Performer:innen dazu auf dem Laufsteg zwischen den Stuhlreihen. Zum anderen verkuppelt Micha Stuhlmann je zwei Zuschauende miteinander, die sich einmal zu ihrem Alleinsein austauschen und sich ein anderes Mal minutenlang betrachten sollen. «Das ist nicht einfach», sagt die Künstlerin. «Schaut den Anderen neugierig, nicht wertend an. Jeder Mensch will wahrgenommen werden.»
Die nächsten Durchführungen
2. März 2024
Herisau | TanzRaum
27. April 2024
Lichtensteig | Rathaus für Kultur
4. Mai 2024
Trogen | Rösslisaal
22. Juni 2024
Degersheim | Herzfeld Sennrüti
Von Inka Grabowsky
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