von Barbara Camenzind, 22.01.2024
Liebeserklärung an eine klingende Anarchistin
Christian Brühwiler hat mit „klangreich“ eine aussergewöhnliche Konzertreihe geschaffen. Am Sonntag startete die letzte von ihm ausgewählte Saison. Gewohnt fulminant. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Wenn Gitarre, dann Leute. Das ist eine der Regeln, die Programmmacher:innen klassischer Musikreihen nur allzu gut kennen. Und so startete die Romanshorner Reiher „klangreich“ am Sonntag in das neue Jahresprogramm in der voll besetzten Alten Kirche Romanshorn. Das Ensemble guitarra a seis gastierte, klangreich wurde es definitiv. Oder anders gesagt: Pures Glück für die Ohren. Für „klangreich“-Erfinder ist dies die letzte Spielzeit. Danach übernimmt Jens Stibal die Leitung der renommierten Konzerte.
Aber schauen wir auf den Auftakt 2024. Er beginnt mit einer Irritation. Wie bitte? Edvard Griegs Norwegische Tänze op. 35 transkribiert für sechs Gitarren? Oder wie klingt das, wenn ein skandinavisches Klanglandschaftsgemälde in Instrumente umgebaut wird, die eigentlich für filigrane Ornamentalmusik gedacht sind? Schön. Einfach berührend schön und ein bisschen frech - was Grieg sicher gefallen hätte.
Tobias Krebs, selber Mitglied und Mitspieler bei guitarra a seis, entflocht Griegs grosse Bögen in kammermusikalische Akkuratesse, betörend in den aufglühenden Soli von Jens Stibal, profund in der Bassgitarre Matthias Klägers, präzise den isochromen Bewegungen, die so typisch sind für Grieg, nachspürend. Harald Stampa, Adam Olenczak, und Edmauro de Oliveira, um das ganze Ensemble mit zu nennen, agierten wie eine grosse Riesengitarre in floating nordic moves. Ziemlich cool, weil so herrlich präzise, was gerade bei gezupften Instrumenten gar nicht leicht ist.
Mit Bach durch den Quintenzirkel
Spannend gings weiter mit Johann Sebastian Bach (der in der Gegenwart wahrscheinlich Jazzmusiker geworden wäre) und seinem fröhlichen Brandenburgischen Konzert Nr. 3 BWV 1048. Bach, der den sechs Gitarristen eine weitere klingende Herausforderung bereit stellte. In der Bearbeitung von Stibal/Stampa galoppierten sechs mal sechs Saiten von Diskant- bis Bassgitarre fröhlich und wohltemperiert durch den Quintenzirkel, zum Gaudium des begeisterten Publikums. Wer braucht schon ein Cembalo, wenn man das so schick musiziert.
Märchenhaftes wussten die Musiker bei Maurice Ravels Auszügen aus „Ma mère l‘oye“ - Mutter Gans zu erzählen. Die Schöne erschien in wunderbaren Tongirlanden, derweil das Biest geräuschhaft über die Griffbrette klabauterte. Das Spannende an Gitarren-Ensembles: Selbst wenn ein Instrument solistisch erklingt, ist es immer eingebunden in die anderen Klänge. Mitspielende sind nie nur begleitende Staffage, selbst wenn sie begleiten. So gesehen ist die Gitarre als Instrument eine heimliche Anarchistin im wahrsten Sinne des Wortes: Nicht Chaos ist damit gemeint, sondern frei von Herrschaft. Und somit muss man gut aufeinander aufpassen.
Rossini, der luftige Musikant
Mit Gioacchino Rossinis Ouvertüre zu „L’italiana in algeri“, bewies guitarra a seis, dass gute Musik, egal in welcher Bearbeitung, einfach immer irgendwie fetzt. Obwohl Rossini ja behauptete, wer eine seiner Opern gehört habe, kenne sie alle…. nun: So mit Gitarren gespielt, tönte mehr der luftige Musikant heraus, als der ewige Rouladenkönig. Und schnelle Finger brauchten die Musiker für die Stretta, das war beeindruckend.
Mit „Orawa“ des polnischen Komponisten Wojciech Kilar beendete guitarra a seis sein offizielles Programm. Feinste Minimal Music- Patterns abgelöst durch volksmusikalische Einwürfe spannen ein immer dichteres Klangnetz in die kleine Kirche, in das man sich fasziniert einwickeln liess. Verdienter grosser Applaus für die sechs Männern an den sechs Saiten, die sich mit einer Zugabe von Frank Zappa noch einmal feiern liessen.
Termin: Das nächste Konzert der klangreich-Reihe findet statt am Sonntag, 4. Februar, 17 Uhr, mit dem Loccisano Piccioni Tarantella Quartet
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