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Kunst am Rande der Welt

Kunst am Rande der Welt
Viel schöner wird's nicht: Sechs Ostschweizer Künstler:innen stellen noch bis 6. Oktober in der historischen Kobesenmühle aus. | © Michael Lünstroth

Verwunschen bis verblüffend: In der zauberhaften Kobesenmühle zeigen sechs Ostschweizer Künstler:innen, was sie unter Stille verstehen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Man muss sich diesen Wilhelm Lehmann vermutlich als zufriedenen Menschen vorstellen. Auf Fotos, die ihn im schon fortgeschrittenen Alter zeigen, posiert er wahlweise rotwangig und mit strubbligem Haar an seiner Werkbank oder mit einem verschmitzten Besitzerstolz im Gesicht in seinem Garten. Beide Fotos sprechen jedenfalls eindeutig für die These - da fühlt sich jemand wohl mit sich und an diesem Ort. „Erträgst du die Stille, ist vieles um dich“, lautete eine der Lebensdevise des 1884 als Bauernbub in Wittenbach (St. Gallen) geborenen Wilhelm Lehmann.

Getreu diesem Motto hatte er sich am Rand des kleinen Niederhelfenschwil, unweit von Bischofszell und gerade so nicht mehr Thurgau, sondern schon St. Gallen, einen Ort geschaffen, der seinem Temperament entgegenkam. Abgeschieden in der Natur, aber doch nicht gänzlich abgeschnitten von der restlichen Welt. Ein kleiner Wasserfall rauscht vor dem Haus vorbei, der Bach schlängelt sich am Grundstück entlang, der grosse Garten im Sommer ein duftendes Farben- und Blütenmeer. Schlüge man im Lexikon den Begriff Idylle nach, wunderte es einen nicht, dort ein Bild der Kobesenmühle zu finden.

 

Wilhelm Lehmann an seiner Werkbank in der Kobesenmühle. Bild: Peter Ammon/AURA www.aura.ch

Der Bruch mit der Familie

Hierher führte Wilhelm Lehmann seine Leidenschaft. Schon als kleiner Junge hatte er ein Faible für handwerkliches Gestalten, bei seinen Eltern konnte er damit nicht punkten, der Bauernhof verlangte nach harter Arbeit. Für Wilhelm Lehmann ein Konflikt, den er nicht lösen konnte. Er verliess die Familie, um sein Glück zu suchen. Was sich heute so leicht liest, muss um 1900 ein unerhörter Kraftakt gewesen sein.

1918 bezog er mit seiner Frau Klara die alte Mühle. Sie wurde erstmals 740 als Besitz des Klosters St.Gallen erwähnt. Das Wohnhaus mit Sichtfachwerk stammt aus dem 17. Jahrhundert, der Mühlestuhl trägt die Jahreszahl 1758. „Hier fand das Ehepaar den Ort, der ihrer Lebensart entsprach, und hier zogen sie ihre drei Kinder Lukas, Urban und Verena gross“, notiert die Stiftung Wilhelm Lehmann auf ihrer Website. Sie pflegt heute den Nachlass des eigenwilligen Künstlers. In der Kobesenmühle hat die Stiftung ein kleines Museum eingerichtet, in dem sie einmal im Jahr Werke von Wilhelm Lehmann ausstellt. Manchmal auch im Dialog mit zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen.

 

Kann die Kunst gegen diese Naturidylle bestehen? Wasserfall an der Kobesenmühle in Niederhelfenschwil. Bild: Michael Lünstroth

 

Das doppelte Jubiläum

In diesem Jahr fällt die Ausstellung etwas umfangreicher aus. Aus Gründen: Die Stiftung feiert ihr 40-Jahr-Jubiläum, und der Todestag von Wilhelm Lehmann jährt sich zum 50. Mal. „Für uns war das ein guter Anlass, mal eine etwas grössere Ausstellung zu machen“, sagt Olivier Zobrist, Filmproduzent aus Zürich, der vor einigen Jahren selbst seine Heimat in Niederhelfenschwil gefunden hat und im Stiftungsrat der Wilhelm-Lehmann-Stiftung sitzt.

Unter dem Titel „Stille“ zeigen sechs Ostschweizer Künstler:innen (drei davon aus dem Thurgau) ihre Perspektive auf das Thema. „35 Kulturschaffende hatten sich auf die Ausschreibung beworben, bei der Auswahl haben wir darauf geachtet, etwas Stimmiges zu finden, das auch in unsere Räume passt“, erklärt Olivier Zobrist. Fast alle Werke sind eigens für die Ausstellung entstanden.

 

„Für uns war das doppelte Jubiläum ein guter Anlass, mal eine etwas grössere Ausstellung zu machen.“ Olivier Zobrist aus dem Stiftungsrat der Wilhelm-Lehmann-Stiftung. Bild: Michael Lünstroth

Die Kunst und das Tempo

Zum Beispiel die Kohlezeichnungen der in Kreuzlingen arbeitenden Künstlerin Maria Xagorari. Bäume, Wurzeln, vom Sturm zerzauste Äste verwendet sie dabei als Stellvertreter des Menschen, der vom Leben gezeichnet ist. Diese Zeichnungen hat die aus Griechenland stammende Künstlerin zusätzlich in eine digitale Animation übersetzt, die in Dauerschleife im Raum nebenan läuft. Mit den langsam wachsenden Bildern der Videoinstallation fängt sie perfekt das entschleunigte und gemächliche Lebenstempo des Ortes auf.

 

Videoinstallation von Maria Xagorari. Bild: Michael Lünstroth

 

Markus Reich aus Romanshorn hat sich mit zentralen Gedanken von Wilhelm Lehmann beschäftigt. „Verweilen“ und „Gewahr werden“ hat er handschriftlich und in zigfacher Wiederholung auf Transparentpapierbahnen in eine künstlerische Form gebracht. Eine zurückhaltende wie gelungene Auseinandersetzung mit Ort und Person.

Eine kuratorische Sonderstellung in der Ausstellung erhalten die Holzskulpturen des in Sommeri lebenden Thomas Stadler. Sie sind auf einer podestähnlichen Zwischenetage positioniert, die aus allen Richtungen sichtbar ist. Stadlers herrlich verschlungene (man denkt ein bisschen an Henry Moore) und sich wunderbar anfühlende Skulpturen aus Zedernholz nehmen Bezug zu dem Material, das auch Wilhelm Lehmann am liebsten bearbeitete - Holz. In Sichtweite zu Stadlers Arbeiten haben die Kuratoren denn auch einige Skulpturen von Lehmann ausgestellt.

 

Holzskulpturen des in Sommeri lebenden Thomas Stadler. Bild: Michael Lünstroth

 

Die beste Arbeit kommt aus St. Gallen

Die gelungenste, weil überraschendste Arbeit der Ausstellung, stammt aber von Domenic Lang. Der St. Galler Künstler zeigt von der Sonne belichtete Finnpappen. Darauf zu sehen - in zarten, blassen, manchmal kaum zu erkennenden Umrissen - Bäume rund um die Kobesenmühle. Was diese Arbeiten so herausragend macht, ist, dass sie nicht nur im Motiv, sondern auch im Handwerk und der Technik einen Ortsbezug herstellen.

Um die Bilder zu erzeugen, hatte Lang Negativfolie auf Kartons gespannt und diese dann in die Sonne gestellt. Natürliche Langzeitbelichtung, wenn man so will. Das ist originell wie clever und spiegelt den Charakter des Ortes verblüffend doppelbödig. Von der idyllischen Ruhe bis zur bräsigen Trägheit ist es manchmal eben nur ein kleiner Schritt. Oder auch: Um wahre Schönheit zu erkennen, muss man schon genau hinschauen.

 

Natürliche Langzeitbelichtung: Arbeiten von Domenic Lang. Bild: Michael Lünstroth

Die dunklen Seiten der Stille

Der Gefahr einer einseitigen Verherrlichung der Stille begegnet die Ausstellung zudem mit zwei weiteren Werken. Michaela Medea zeigt mit drei eindrücklichen Porträts, was es bedeutet, wenn man zur Stille gezwungen wird, und im Garten bricht der St. Galler Künstler Jan Kaeser die heilige Stille dann auch noch hübsch ironisch. Direkt an die Tür des Toilettenhäuschens spielt er mit dem Begriff des Da-Seins. Ein metallener Kreis, das „Da“ steht ausserhalb, das „Sein“ im Inneren des Kreises, aber in Spiegelschrift. Selten wurde die immer währende Verbindung zwischen Innerlichkeit und Äusserlichkeit plastischer auf den Punkt gebracht.

Die grosse Frage, die sich bei Ausstellungen an solch besonderen Orten immer stellt, lautet: Können die Kunstwerke gegen die Umgebung bestehen? Das ist bei der Kobesenmühle natürlich eine doppelte Herausforderung. Da ist nicht nur dieser verwunschene Platz am Wasser, der auch heute noch nur über eine Schotterpiste erreichbar ist und mit seiner Ruhe, seiner erdigen Schönheit und dem satten Grün alle Sehnsuchtskriterien geplagter Städter erfüllt. Nein, da sind natürlich auch die eher schwierigen Bedingungen für die Hängung zeitgenössischer Kunst in einem historischen Ort mit kleinen Räumen und niedrigen Decken. Die Kobesenmühle ist alles - nur eben kein White Cube.

 

Die Kobesenmühle in Niederhelfenschwil - ein Sehnsuchtsort geplagter Städter. Bild: Michael Lünstroth

Die grosse Frage: Gegen den Ort oder mit dem Ort kuratieren?

Als Kurator hat man an dieser Stelle zwei Möglichkeiten: Entweder den Raum mit explosiver Kunst herausfordern oder Kunst zeigen, die die Stimmung des Raums aufgreift. Beides kann funktionieren, beides kann schief gehen. Die Kuratoren der Stiftung Wilhelm Lehmann haben sich dafür entschieden, eine Ausstellung zu bauen, die mit dem Ort harmoniert. Das geht ein bisschen auf Kosten der Reibung, aber es fügt sich schon auch ganz gut in das Gesamtbild dieses bezaubernden Flecken Erde.

Vielleicht ist es auch einfach konsequent. Vom Kunstbetrieb hielt Wilhelm Lehmann ohnehin wenig. Er hat sich zeitlebens kaum als Künstler verstanden, sondern eher als Kunsthandwerker. Lehmann ging es um Nachhaltigkeit und einen vernünftigen Umgang mit Ressourcen.

Was wir von Wilhelm Lehmann lernen können

Nicht nur hier war er seiner Zeit übrigens voraus. Auch sein Blick auf Gesellschaft und unser Zusammenleben war kristallklar wie das Wasser, das an der Kobesenmühle vorbeifliesst: „Nicht schlecht sein ist mehr denn gut scheinen“, lautet ein weiterer seiner überlieferten Sprüche. Eigentlich ganz einfach. Es spricht nicht für unsere Zeit, dass 50 Jahre nach Wilhelm Lehmanns Tod ausgerechnet dies die dringendste Botschaft ist, die die Idylle für die Welt da draussen hat.

 

Jan Kaesers Version des Da-Seins im Aussenbereich der Kobesenmühle. Bild: Michael Lünstroth

 

Öffnungszeiten & Rahmenprogramm

Die Ausstellung in der Kobesenmühle ist in der Regel jeden ersten Sonntag im Monat geöffnet. Die nächsten Daten sind:

 

2. Juni, 14 bis 17 Uhr
7. Juli, 14 bis 17 Uhr
4. August, 14 bis 17 Uhr
11. August, 12 bis 17 Uhr - anschliessend an die Lesung
1. September, 14 bis 17 Uhr
6. Oktober Finissage 14 bis 17 Uhr

 

11. August, 10 Uhr: Lesung mit Christoph Sutter. Der Lehrer, Moderator und Eventpoet Christoph Sutter liest zum Thema „Stille“. Anschliessend Apéro.

 

Das Jubiläumsprogramm im Überblick.

 

Mehr über die Kobesenmühle und die Jahresausstellung gibt es auch auf der Internetseite https://kobesenmuehle.ch/ 

 

 

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