von Barbara Camenzind, 13.01.2022
Klanglabor im Alltagsraum
In der Konzertreihe NŒISE mischt sich die Zeitgenössische Musik unters Volk. Der Auftakt am vergangenen Dienstag zeigte, wie berührend und amüsant das sein kann. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Die Bibliothek. Der Ort der Stille, der Einkehr zwischen den bedruckten Seiten. Ein sanftes Raunen und Rascheln, mehr nicht, selbst bei viel Betrieb. Die Besucher*innen der Regionalbibliothek Weinfelden staunen nicht schlecht, als sich am Dienstag Nachmittag in den Regalen plötzlich kleine, uralte Kofferradios verstecken. Die munter und zart Geräusche parlieren, geheimnisvoll vor sich hin rauschen und im Reiseführergestell polyglott in neuen Wortschöpfungen brabbeln.
Und dann ist da noch der Mann mit der Trompete. Der zwischen den Gängen mit den Radiöli trompetisch spricht. Geheimnisvoll, aber irgendwie total selbstverständlich. Die Lesenden sind überrascht, irritiert, amüsiert. Da ist ja was echt Spezielles los in der sonst so ruhigen Bibliothek, so der Tenor der Erwachsenen. Die Kinder finden das total selbstverständlich. Der Trompetenmann und die Radios - die gehören jetzt einfach zum Inventar.
Alles hat seine Ordnung
Aber nach über vier Stunden ist dann mal eine Pause angesagt. Soweit die Nacherzählung der Erlebnisse von Bibliothekarin Rahel Ilg, die die Installation von Christoph Luchsinger (Trompete) und des Künstlerkollektivs blablabor den ganzen Nachmittag und Abend begleitete.
Auf verschiedenen Tischen haben die Künstler Annette Schmucki und der Weinfelder Reto Friedmann von blablabor ein Sammelsurium an alten UKW-Radios gruppiert. Aber halt, alles hat seine Ordnung. Die Geräte sind verschiedenen Sprachgruppen zugeordnet. So erklingen die russischen Radios natürlich in russisch, beziehungsweise in Wortschöpfungen, die so ungefähr in Russisch erklingen.
UKW-Guerilla und babylonisches Sprachgewirr
Das Ungefähre der Sprache, die Dekonstruktion fasziniert das Kollektiv, für NŒISE haben sie auf einer Installation aufgebaut, die im Jahr 2000 bereits auf der Fähre zwischen Romanshorn und Friedrichshafen erklang. Für dieses Programm installierten sie extra ein „Nahdeutscherlebnis in Thurgauerisch“ dazu. Fasziniert von den Klangwelten und Möglichkeiten des UKWs, mit denen sie mittels Handyloop und kleinen Sendern kurzwellige Sendegebiete, nicht grösser als etwa 1,5 Quadratmeter gestalten - und diese zum Leben erwecken und wieder verstummen lassen können.
Trompeter Christoph Luchsinger, mit der Thurgauer Sprachtonspur im Ohr, versucht, diese mit seiner Trompete in Klangspuren umzusetzen, er reagiert auf den Zauber, den ihm das blablalabor zuspielt. Im Anfang war das Rauschen. Fast wird man etwas nostalgisch, in Zeiten von DAB+ ist dieses Geräusch aus unserer Hörgewohnheit verschwunden.
Reinhören: So klingt NŒISE in Weinfelden
Unbezahlbar poetisch
Durch die klug orchestrierte Rauminstallation entsteht aus dem Rauschen plötzlich das Gefühl, inmitten eines Turms zu sitzen, der aus allen Richtungen Sprachfetzen, Töne, Melodiebögen und Eva Nievergelts wunderschöne Stimme aufklingen und verschwinden lässt. Der Surroundeffekt mit Trompete und alten Radios: Unbezahlbar poetisch.
Der Überraschungseffekt, da nie vorhersehbar ist, welche Radiogruppe wieder aktiv wird, wann die Trompete ihre letzten Töne spielt. Wir hörten alle gebannt zu bis zur letzen Stille.
Experiment gelungen
Christoph Luchsinger hat für NŒISE einen Beitrag aus dem Wettbewerb KosmosMusikThurgau des Kantons erhalten. Sein Traum, ein Laboratorium für Klänge und Konzepte, Ideen und Fragestellungen zu entwerfen fokussiert sich im Wunsch, sich mit der Zeitgenössischen Musik zu den Menschen aufzumachen. Raus aus dem Konzertsaal, hinein in den Thurgauer Alltag.
Das hat in der Weinfelder Regionalbibliothek wunderbar funktioniert. Die drei Künstler haben sich nicht aufgemacht, die Leute zu den schrägen Tönen zu bekehren, oder sie zu belehren. Sensibel nahmen sie den Ort wahr, wurden zu Komplizen der Bibliotheksbücher mit ihren vielen, vielen Wörtern, luden ein, zu verweilen, irritierten charmant und frech und brachten dort, wo sie intervenierten, dem Ort und seinen Menschen einen schöpferischen Mehrwert. Das ist einfach, bestechend, gut und wichtig.
Die weiteren Termine und Aufführungen
Vom 28. April bis 4. Mai. 2022 ist der zweite Streich unter dem Motto Bewegung.Klang. für Trompeter, Tänzerin und Schaufenster geplant. Lokale Boutiquen im Thurgau werden bespielt, zu der die Auftragskomposition „Zwirn“ der sehr faszinierenden Komponistin und Konzeptkünstlerin Lara Stanic zu erleben sein wird.
Fast verwegen klingt der dritte Streich vom 17. bis 26. Juni 2022: Musikalische Interaktionen zwischen Geschmack und Klang. Luchsinger untersucht da mit der Sensorikerin Dr. Jeannette Nuessli Guth und dem Cubeat Percussion Duo, wie Klänge, Musik, Geschmackswahrnehmungen beeinflussen können. Spielorte sind ein Weingut und ein Naturmuseum im Thurgau.
Nächste Aufführungsdaten von NŒISE Interaktionen Wort. Mit blablabor und Christoph Luchsinger, Trompete:
Donnerstag 13. Januar 2022 Bücherbrugg Kreuzlingen
Mittwoch 26. Januar 2022 Stadtbibliothek Arbon
Donnerstag 27. Januar 2022 Literaturhaus Thurgau Gottlieben
Alle Termine im Überblick auf https://www.noeise.ch
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