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von Thi My Lien Nguyen, 06.07.2023

„Ideen fallen nicht vom Himmel“

„Ideen fallen nicht vom Himmel“
Die Fotografin und Künstlerin Thi My Lien Nguyen. | © Joel Hunn

Mein Leben als Künstler:in (4): Die Fotografin Thi My Lien Nguyen über 50 shades of Arbeit oder wie Künstler:innen eigentlich Ideen schöpfen. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)

„Fotografin und Künstlerin.” So nenne ich mich, so stelle ich mich vor. Diese Unterscheidung ist bewusst und gewollt. Meine Haupttätigkeiten sind mehr oder weniger damit abgedeckt. Zudem kann mein Gegenüber sich ein grobes Bild machen, was ich den ganzen Tag lang so mache. Oder doch nicht?

Wie auch Fabian bereits vor mir beschrieben hat, tragen wir als Kulturschaffende viele Hüte gleichzeitig. Nebst der künstlerischen Arbeit sind wir gleichzeitig unsere Manager:innen, Organisator:innen, Social Media/Kommunikation-Zuständige, Networker:innen… (die Liste ist lang!) Und auch wie Ute, bin ich der Meinung, dass wir so viel mehr sind als „nur” unser Beruf als Künstler:innen. 

Wir sind mehr als unsere Kunst

Wir sind Personen einer Gesellschaft, Teil von Familien, Freundeskreisen und weiteren Gemeinschaften. Wir sind Individuen – nebst der künstlerischen Identität. Wir steuern zu einem gemeinsamen Leben bei und setzen uns für Dinge und Werte ein, die uns wichtig sind. 

Wie bei den meisten Menschen können auch wir erst dann richtig brillieren, wenn unsere Grundbedürfnisse gedeckt sind und unsere Rahmenbedingungen stimmen. Nur wenn eine gewisse Balance sowohl in uns selbst als auch um uns herum herrscht, können wir unsere volle künstlerische Potenz entfalten. Und wie diese Balance genau erreicht wird, ist bei allen Kulturschaffenden individuell.

Ich brauche Balance in meiner Arbeit

In meiner Praxis versuche ich, eine für mich stimmige Balance zu finden und zu manifestieren. Meine Projekte reichen vom Medium der Fotografie zum Bewegtbild, von Dinnerparties bis hin zu Workshops konzipieren und leiten – das Thema, die Fragen und der Kontext sind meine Antreiber. Welches Medium ich schliesslich wähle oder in welcher Form es präsentiert wird, hängt stark von der Essenz des Projekts ab.

In meiner künstlerischen Praxis versuche ich, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Arbeit am Konzept, der eigentlichen „handwerklichen" Arbeit und nicht zuletzt, was mir sehr am Herzen liegt, meine Artist Dates (oder auch „Arbeit-wo-ich-mein-inneres-Kind-pflege” genannt) zu finden. Nicht zu vergessen ist da natürlich auch noch die „Ich-brauche-regelmässig-Geld-um-in-dieser-Welt-zu-überleben-Arbeit". (Von dort kommt auch meine Unterscheidung zwischen den Labels der „Fotografin” und der „Künstlerin”. Aber dazu erzähle ich gerne ein ander Mal mehr.)

 

Collage eines Künstlerinnenlebens. Bild: Thi My Lien Nguyen

 

Nichts kommt aus dem Nichts

Ich glaube nicht an den Mythos, dass Kreative mit Ideen „wie vom Blitz getroffen" werden oder dass Ideen vom Himmel fallen. Ich bin mir sicher, viele kennen diese Momente. Beim Duschen, beim Sport oder beim Kochen. Da können einem brillante Ideen oder die Lösungen für die nächste Sache zu Sinnen kommen. Kam die wirklich aus dem „Nichts” und „einfach so”? Ich denke nicht.

Unser Verstand arbeitet manchmal für uns auf geheimnisvolle Weise und ich bin überzeugt, dass unser (Unter-)Bewusstsein viel mehr rattert, als uns wirklich bewusst ist: Wenn wir also unseren Verstand und unsere Herzen mit Dingen und Sichten füllen, die uns Freude bereiten, uns inspirieren oder sogar in Erstaunen versetzen, kann das ein Weg sein, unsere innere Kreativitätsquelle aufzufüllen. So, wie auch Tabea das „Angebot ihres Algorithmus” beschreibt.

Manchmal beobachte ich, um neue Ideen zu finden

Es gibt Zeiten, da besuche ich beispielsweise absichtlich spannende (Lebensmittel-)Geschäfte oder Second-Hand-Läden. Manchmal sitze ich im Park oder in der Stadt, um zu schauen und zu beobachten. Wer macht was, wie und weshalb? Welche Geschichten spielen sich im öffentlichen Leben ab und was trage ich dazu bei? Nach diesen Abstechern fühle ich mich immer sehr inspiriert und energiegeladen.

Für mich haben diese Momente und Erfahrungen einen grossen Einfluss auf mich und meine Arbeit, und ich versuche mein Bestes, mindestens einen halben Tag pro Woche nur dafür zu reservieren. („Künstler:innen und deren Zeitmanagement” wäre ebenfalls ein spannendes Thema!) 

Ohne Aktivität keine Kreativität

Denn Ideen für neue Projekte kommen nicht einfach so aus dem Nichts und zufälligerweise, sondern benötigen Raum und Zeit um zu gedeihen, aber vor allem benötigen sie eine aktive Handlung des Säens, bevor das Gedeihen überhaupt erst stattfinden kann.

Die Serie «Mein Leben als Künstler:in»

Im Juni 2023 lancieren wir die neue Kolumnenserie «Mein Leben als Künstler:in». Darin schreiben die vier Künstler:innen Ute Klein, Fabian Ziegler, Thi My Lien Nguyen über ihren Alltag und ihre Arbeit. Diese vier Künstlerinnen und Künstler schreiben bis Ende Oktober 2023 regelmässig und abwechselnd ihre Kolumnen für die neue Serie. Sie erscheint ab dem 15. Juni immer donnerstags. Die Vorgaben, die wir aus der Redaktion gemacht haben, waren minimal. In Thema, Stil, Darstellungsform, Tonalität und Medialität sind alle Autor:innen frei. Die Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht.

 

Eine kritische Auseinandersetzung mit Dingen, die die Künstler:innen beschäftigen, wie den Bedingungen des Kulturbetriebs oder auch mit dem Kulturleben im Thurgau oder was auch immer, ist genauso möglich wie eine Schilderung des Alltags. Ziel der Serie ist es, ein möglichst realistisches Bild der verschiedenen Künstler:innen-Leben zu bekommen.

 

Idealerweise entsteht so ein Netz aus Bezügen - interdisziplinär und umspannend. Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

 

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

 

Was wir uns als thurgaukultur.ch auch erhoffen mit der Serie ist, dass ein neuer Dialog der Kulturschaffenden untereinander entsteht, aber nicht nur. Es soll auch ein Austausch mit dem Publikum, also unseren Leser:innen stattfinden. Das geht über unsere Social-Media-Kanäle, in denen wir direkt miteinander diskutieren können oder in der Kommentarspalte zu den einzelnen Beiträgen auf unserer Website. Wenn du konkrete Fragen an die teilnehmenden Künstler:innen hast, wenn dich ein Themenfeld besonders interessiert, dann kannst du mir auch direkt schreiben, ich leite dein Anliegen dann gerne weiter: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch 

 

Alle erschienenen Beiträge der Serie bündeln wir im zugehörigen Themendossier.

 

 

 

 

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