von Barbara Camenzind, 16.07.2021
Hohe Kunst der Zurückhaltung

Am Konstanzer Musikfestival wurde am Mittwoch Frédéric Bollis „Sinfonia nabollitana“ mit dem Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim uraufgeführt. Pianist Severin von Eckardstein präsentierte vorab das hinreissend klug musizierte Klavierkonzert „Jeunehomme“ von Mozart. Und die Uraufführung überraschte freudig, weil sie nicht nicht überraschte.
Nach unserem Gespräch mit dem Thurgauer Komponisten sind wir natürlich neugierig und ganz Ohr im Festsaal des Steigenberger Inselhotels. Das Paket stimmt. Die schöne Seestadt, das wunderbare mittelalterliche Gebäude und formidables Essen im noblen Hotel: Das Musikfestival Konstanz bietet schon vor Konzertbeginn alles, was Klassik-Festivalfans lieben. Und das alles auf kurzen Wegen und ohne versnobt zu wirken.
Der schlichte wie schöne Festsaal mit den mittelalterlichen Fresken schien mit der Musik zu atmen. Dirigent Douglas Bostock, Pianist Severin von Eckardstein und das Orchester waren ganz auf der achtsamen Seite. Das befeuerte Mozarts Zauber. Dieses Klavierkonzert war das letzte in Mozarts Salzburger Zeit, geschrieben für die Pianistin Jenamy, aus der Jeunehomme wurde.
Unvergleichliche Empfindungen bis zur letzten Kadenz
Der erste Satz lebt von Proportionen: Orchester wie Pianist gelang der sportliche Auftakt sehr gut. Im wechselhaften Rollenspiel danach, diesen wunderbaren Parlandi zwischen Tutti und Solo geriet das Orchester zeitweise intonatorisch etwas in die Defensive, weil zu vorsichtig. Von Eckardsteins sensible Einsätze, seine wohlwollende Führungsübernahme und -abgabe im Zusammenspiel mit dem Dirigenten war ein wunderbares Erlebnis. Im zweiten Satz, dem anmutig klagenden Andantino rührte er einem zu Tränen. Das ist noch keine Romantik, in die sich der Künstler selbst hineinstürzt. Wo das Interpreten-Ich manchmal auch unangenehm zentral werden kann. Mozart fordert freundliche Zurückhaltung, Severin von Eckardstein befolgte diese Anweisung. So erlebte das Publikum unvergleichliche Empfindungen an dem Abend. Das ist der Zauber von Mozart, der bis zum letzten Ton des wunderbaren Werkes zu spüren war. Grossartig bis zur letzten Kadenz.
Meisterlich zusammengefügt
Wer komponiert, versteht sich in der Kunst des Zusammenfügens. Und Komponist Frédéric Bolli sein musikalisches Handwerk. Zum Komponistenhandwerk gehört es in jahrhundertealter Tradition auch, mit Vorgaben zu arbeiten, die dem Veranstalter entgegenkommen. Mozarts Klavierkonzert-Besetzung ist die „neapolitanische“ mit zwei Oboen, zwei Hörnern und Streichern. Die „Sinfonia nabollitana“ ist praktischerweise gleich aufgestellt, minus ein Konzertflügel.
Bolli schickte die Zuhörenden sogleich auf eine spannende Reise. Verflochtene Streicherpassagen, sehr gut ausgearbeitet vom Orchester, wechselten sich ab mit dunklen Rhythmen, die in ihrer farbenfrohen und doch sehr intellektuellen Form an den musikantischen „Telegrafenstil“ der Oper „Neues vom Tage“ von Paul Hindemith (1929) erinnerten. Bald wurde klar, dass dieser Abend noch einen heimlichen zweiten Solisten hatte: Matthias Potzet am Kontrabass groovte klangschön, souverän und gekonnt durch die modern-postmodernen Tongeflechte. Mit dem gleichen Understatement, wie der Pianist. Klasse.

Der zweite Satz — der der Symmetrie zuliebe auch der mittlere Satz der Sinfonia war – gestaltete sich als eine „heimlifeisse“ Auseinandersetzung zwischen den Streichern im Pizzicato und den elegischen Bläsern. Und zum Schluss waren alle Klangstränge, walzerselig oder gradaus, herrlich in Auflösung begriffen.
Der launische dritte Satz, mit seinen fröhlich-frechen Motiven erinnerte wieder an die Komponisten der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch die persönliche Handschrift des Uraufgeführten war deutlich erkennbar. Die Frage stellt sich: Darf heute noch so absehbar komponiert werden? „Gemässigt modern“, wie Bolli sich nennt? Es war schon überraschend, wie klar sich der Komponist einer fast hundertjährigen Kompositionsart verschrieb. Muss Zeitgenössische Musik nicht stets das Neue suchen? In einer Zeit, in der die Vielfalt gross ist und die „Schubladisierer“ trotzig ihre Pfründe verteidigen? Ja und nein. Genau darum kann so ein Werk als zeitgenössisch betrachtet werden. Denn das Nebeneinander ist unsere Gegenwart.
Übrigens: Komponieren heisst zusammenfügen. „Composere“ hat den gleichen Wortstamm wie dieser nützliche Haufen im Garten. Komponistinnen und Komponisten gärtnern mit fruchtbarer Tonerde und profitieren vom Nährboden des Vergangenen, damit Neues wachsen kann.

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