Seite vorlesen

Grüsse aus Digitalien

Grüsse aus Digitalien
«Man sollte kein abgeschlossenes Philosophie-Studium benötigen, um ein Tanzstück zu verstehen.» Die Tänzerin Anna Anderegg über ihr Verständnis von Tanz. Am 3. und 4. Mai gastiert sie mit ihrem Kollektiv Asphalt Piloten beim Festival «tanz:now» in Steckborn. | © Julija Goyd

Die Asphalt Piloten sind eines der spannendsten Künstler-Kollektive der Schweiz. Am 3. und 4. Mai kommt die Gruppe um die Tänzerin Anna Anderegg zum Festival „tanz:now“ nach Steckborn. Wir haben mit der Gründerin vorab gesprochen. 

Der entscheidende Moment ihres Leben ereilte Anna Anderegg an einem Mittwoch im Jahr 2002 in einem Bus: „Mir wurde plötzlich klar: ich mache tausend Jobs, nur um diese Tanzstunden zu bezahlen, aber eigentlich will ich nur das: Tanzen. Seit diesem Mittwoch war alles logisch und hat sich bis heute einfach ergeben“, blickt die 34-Jährige zurück. Am Freitag danach kündigte sie alle Jobs, schmiss ihr Studium hin und ging nach Frankreich an eine Tanzschule. Ein Jahr später zieht sie nach Berlin und beginnt dort eine Ausbildung im Modernen Bühnentanz. 

Heute ist sie der Kopf des von ihr gegründeten Kreativkollektivs Asphalt Piloten mit dem sie regelmässig auf internationalen Festivals auftritt. 2013 erhielt sie den June Johnson Dance Prize für ihr innovatives Tanzschaffen. In ihren Choreographien erforscht und untersucht sie mit einer Gruppe von drei bis 14 weiteren Künstlerinnen und Künstlern den öffentlichen Raum und unser Leben darin. Am 3. und 4. Mai landen die Asphalt Piloten auch beim Festival „tanz: now“ in Steckborn.

Echter Mensch oder digitaler Avatar? Eine Frage, die die Performance #homies ergründen will. Bild: Milica Slacanin

Der Name entstand aus der Spontaneität - und blieb

Den Weg zum Tanz findet Anna Anderegg vergleichsweise spät. Sie probiert viel aus, will eigentlich Schauspielerin werden, geht an Theater, zum Film (unter anderem „Berlin für Helden“ von Klaus Lemke), wird Backgroundtänzerin bei der Rapperin Lady Bitch Ray, findet aber doch nirgendwo, was sie sucht: Ein Stück Heimat. Also baut sie sich ihre eigene Wohlfühl-Bühne: Die Asphalt Piloten. Eine Konsequenz, die auch sehr viel mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Andereggs Vater war Opernsänger, ihre Mutter Krankenschwester. Sie waren viel unterwegs, Vegetarier und hatten kein Auto. „In der Schweiz waren wir immer die ‚schräge‘ Familie“, erinnert sie sich. Sie habe sich stets als Touristin gefühlt, ganz gleich wo sie war. 

Die Asphalt Piloten haben das geändert. Für die Tänzerin wurde es schnell mehr als nur irgendeine Gruppe: Es wurde ihr Zuhause. „Ich habe mich lange nicht 100 Prozent mit meiner Umgebung identifizieren können. Die Asphalt Piloten geben mir diesen Raum jetzt und das Gefühl zu einer Gruppe zu gehören, zu der ich auch gehören möchte“, sagt die 34-Jährige. Und was steckt hinter dem Namen? Der Name habe sich aus der Spontaneität heraus ergeben und sei am Ende geblieben, sagt Anna Anderegg. Wohl auch, weil er ganz gut beschreibt, was die Gruppe mit ihrem Ergründen des öffentlichen Raums eigentlich macht: Wie Piloten schweben sie über das, was wir so Leben nennen und picken sich die markantesten Entwicklungen für ihre Stücke heraus. Um beispielhaft zu zeigen, was falsch läuft in unserer Gesellschaft. 

Entstanden ist das Kollektiv ursprünglich übrigens aus einer Verlegenheit: „Zwischen 2008 und 2009 habe ich viel mit Musikern gearbeitet und Ministücke kreiert. Durch diese Arbeit erhielten wie 2010 eine Carte Blanche für das Festival «La Plage des Six-Pompes», da brauchten wir einen Namen für die Gruppe und ich gründete die Asphalt Piloten“, erklärt Anderegg. 

Szene aus der Performance #homies. Bild: Milica Slacanin

Wie verändert die Digitalisierung unser Zusammenleben?

Zum Steckborner Festival „tanz:now“ kommt die Gruppe jetzt mit ihrer Performance «#homies», ein Stück über das Leben im digitalen Zeitalter und die Frage, wie weit wir mit der Digitalisierung gehen können. „Mich interessiert daran, wie sich unser Zusammenleben verändert, wenn wir digital kommunizieren. Was macht es mit uns, wenn wir alle beinahe dauerabwesend sind in digitalen Welten?“, erklärt Anna Anderegg. Bespielt wird mit dem Stück eine Wohnung, im konkreten Steckborner Fall in einer Wohnung in der Obertorstrasse 11. 

Die Zuschauer können sich bewegen und umherlaufen. Sie werden dabei auf Tänzerinnen treffen von denen sie nicht genau wissen, was diese sind: Virtuelle Avatare, denen wir im echten Leben begegnen oder echte Menschen, die digitale Avatare haben? Diese Offenheit zeichnet die Arbeiten der Asphaltpiloten aus. Am Anfang steht immer die Faszination für den Raum und wie er sich durch Aktion verändert. In gewisser Weise ist «#homies» die Reduktion der Asphalt-Piloten-Produktionen auf das Wesentliche. Bislang bespielte das Kollektiv vor allem den öffentlichen Raum. Mit einer Wohnung nehmen sie sich nun eine engere Keimzelle des menschlichen Zusammenlebens vor. 

Video: #homies von den Asphalt Piloten

Die Stücke entstehen stets gemeinsam

An «#homies» kann man auch gut erkennen, wie die Asphalt Piloten arbeiten. Das Thema Digitalisierung interessierte Anna Anderegg schon länger. Also beschloss sie, eine Arbeit dazu zu kreieren. Das bedeutet am Anfang vor allem eines: monatelange Schreibtischarbeit. „Ich schreibe die Konzepte und organisiere die Realisierungsphasen“, erklärt Anderegg. Dabei entwickelt sie eine Vision von Tempo, Richtung und Inhalt, die das Stück haben soll. „Diese Vision bietet den Rahmen, den die Künstler dann füllen. Die Umsetzung kommt von allen und entsteht in Zusammenarbeit.“ Tänzer, visuelle Künstler, Kameraleute, Kostümdesigner, Lichtmenschen. Alles soll zusammen kommen und sich gegenseitig befruchten. Wen sie jeweils dazu holt, hängt immer vom jeweiligen Thema ab.

So verschieden die Arbeiten der Asphalt Piloten sind, der Ansatz dahinter ist im Grunde immer derselbe: Es geht darum mehrschichtige Arbeiten zu schaffen, die zugänglich und trotzdem tiefgehend sind: „Für mich war Tanz immer unmittelbar: Kommunikation ohne Sprache. In meinen Augen sollte man kein abgeschlossenes Philosophie-Studium benötigen, um ein Tanzstück zu verstehen.“

Termin: Am 3. und 4. Mai sind die Asphalt Piloten zu Gast im Phönixtheater Steckborn. Tickets (zwischen 15 und 25 Franken) gibt es nur vor Ort am Veranstaltungstag. Alle Infos dazu gibt es hier

Szene aus der Performance #homies. Zu sehen am 3. und 4. Mai in Steckborn. Bild: Milica Slacanin

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Bühne

Kommt vor in diesen Interessen

  • Porträt
  • Vorschau
  • Tanz

Werbung

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Bühne

Problemfamilie mit Wiedererkennungswert

Die Eigenproduktion „Familienidylle“ des theagovia theater zeigt eine Familie im Ausnahmezustand, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. mehr

Bühne

«Ich will auch nicht immer in den Abgrund schauen.»

Die Schauspielerin und Produzentin Susanne Odermatt hat sich in den vergangenen Jahren als Spezialistin für Dramen einen Namen gemacht. Jetzt bringt sie eine Komödie auf die Bühne. mehr

Bühne

Raum ist in der kleinsten Scheune

Der Lengwiler Verein für Kulturveranstaltungen «Plan BBB» erweitert sein Programm. Statt den ursprünglichen Zutaten «Band, Boxen, Bier» durfte Micha Stuhlmann die Scheune für eine Performance nutzen. mehr