von Barbara Camenzind, 01.10.2024
Grosser Jazz in kleiner Kirche
Neue Saison, neuer künstlerischer Leiter: Mit dem Lea Gasser 5tet startete Klangreich Alte Kirche Romanshorn in die Zukunft. Das Konzert war der Auftakt von Jens Stibal, dem neuen künstlerischen Leiter des in der Gesellschaft für Literatur und Musik (GLM) angesiedelten Konzertformats. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Guter Jazz ist wie ein Gespräch unter Freunden. Jeder kommt mal zu Wort. Und das preisgekrönt: Das Quintett rund um die Akkordeonistin Lea Gasser hat gerade vor einer Woche den Jazzpreis der Zürcher Kantonalbank gewonnen. Satte Moods verwoben sich mit elegischen Melodiebögen, fächerten sich ausufernd aus in grosse Klanggesten, um dann wieder in sich zu versinken.
Lea Gassers Kompositionen folgen den klassischen Strukturen des Jazz, sie durchsetzt ihn jedoch mit einer ganz eigenen Sogkraft, wie sie nur ihr Instrument auslösen kann. Fauchend-perlend klang „Rain“ durch die kleine Kirche, spannend und zutiefst melancholisch. Alltagssituationen inspirierten oft ihre Kompositionen, erklärte Gasser dem Publikum.
Mit „Chorale“ unternahmen die Musizierenden eine kleine Zeitreise. Ein Akkordeon, landläufig Handorgel genannt, ist eine Orgel mit Blasebalg, der liegende Akkorde erzeugen kann. Darin versteckt ist der lateinische Begriff „organum“: Die frühe Mehrstimmigkeit des Mittelalters mit seinen Quintparallelen. Erst feinziseliert gesungen, dann verjazzt, wurde so der schöne gotische Raum in diesem Stück zum Mitmusizierenden. Allerdings nur da.
Die Kirche als sensible Mitspielerin
Diese coole Musik, die mit ihrem frankophon anmutendem Charme und ihren Blautönen, wunderbar gross angelegt durch Mirko Maio‘s fette Fender Rhodes, Samuel Urscheler am Saxophon, Emilio Giovanolis sprechender Bass und Romain Ballarinis exquisiten Drumklängen, platzte etwas zu üppig in die spartanisch-sensible gute Stube in Romanshorn.
Was an einem Jazzfestival hervorragend funktionierte, war in der leicht überakustischen Atmosphäre des kleinen mittelalterlichen Gebäudes too much. Viele Passagen verschlugen sich leider etwas. Es war so nicht immer ganz einfach, den schönen, virtuosen Soli zu folgen. Die alte Kirche ist eine sensible Mitspielerin. Dem Publikum gefiel der Auftakt jedoch sehr und dankte den Klang-Künstlern mit warmem Applaus.
Chance und Herausforderung
Jens Stibals Chance in seiner neuen Funktion als künstlerischer Leiter der Klangreich-Reihe ist gegeben und solide vorgespurt. Musikalisch-künstlerisch ist der Gitarrist hervorragend vernetzt, vielfältig orientiert und sehr daran interessiert, seinem Publikum künftig ein ebenso vielfältiges Programm anzubieten, wie es sein Vorgänger Christian Brühwiler tat.
Sein Motto sei es, Konzerte anzubieten, die er selber gerne besuche, sagt er auf Nachfrage. Und das darf sich durchaus auch etwas von dem unterscheiden, war vorher war. Seine Herausforderung wird es sein, den Raum als Mitspielerin gut kennen zu lernen, diesen und das Publikum - im wahrsten Sinne des Wortes - als Mitakteur:innen mit einzubeziehen.
klangreich - das Programm 2024/2025
27. Oktober 2024: Ein berauschender kammermusikalischer Grenzgang: Das Moser Streichquartett und das Modulor Streichquartett, beide aus Basel spielen Mendelssohns Oktett Nr.20, ein Herzstück der Romantik und feiern ihr Ende mit Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“.
24. November 2024: Auf Winterreise mit zwei neunsaitigen Gitarren und einem Tenor: Schuberts Liedzyklus interpretiert vom Duo 1827 (Tobias Krebs, Jens Stibal) und dem Sänger Ilker Acayürek in einer heute eher selten gehörten Besetzung, mit Gitarren aus der Zeit des Komponisten. Spannend für Freund*innen der grossen Liedkultur in einem etwas intimerem Rahmen.
19. Januar 2025: Treffpunkt Gewandhaus Leipzig: Das Ensemble Quintessenz, bestehend aus fünf international arbeitenden Querflötist*innen präsentieren ihre Lieblingsstücke neu interpretiert von Bassflöte bis Piccolo.
30. März 2025: Gansch und Breinschmid: Der Trompeter und Jazz-Virtuose Thomas Gansch dürfte dem Klangreich-Publikum kein Unbekannter sein. Zusammen mit dem Bassisten Georg Breinschmid kann man sich auf klasse Musik und subversiven österreichischen Schmäh freuen.
18. Mai 2025: Nymphetamin , Verbotene Lieder: Und der Haifisch, der hat Zähne… Kurt Weill, Hanns Eisler Georg Kreisler und Co. haben auch verboten gute Chansons geschrieben. Frisch interpretiert von der Rostockerin Marie-Luise Böning und der Pianistin Lena Schmidt aus Wetzikon.
Tickets für alle Konzerte gibt es über die Website der Konzertreihe:
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