von Jochen Kelter, 03.10.2023
Frauenfeld ist überall
Die Grand-Prix-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse hat ein neues Buch vorgelegt: «Zeilenweise Frauenfeld» ist ein experimentelles, witziges und geistreiches Spiel mit der Sprache. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Zsuzsanna Gahse ist in Budapest geboren, kam nach dem ungarischen Aufstand gegen das stalinistische Regime 1956 nach Wien, lebte in Kassel und Stuttgart und seit vielen Jahren in der Schweiz, und ist seit geraumer Zeit in Müllheim im Kanton Thurgau daheim. Sie hat zahlreiche Preise bekommen, unter anderem den aspekte-Literaturpreis (1983), den Italo-Svevo-Preis (2017), nicht zuletzt 2019 den gut dotierten Grand Prix Literatur des Bundes.
Gleichwohl ist sie vor allem Insidern, Literaturkennern bekannt. Das dürfte an ihrer experimentellen Schreibkunst liegen, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht. Es ist keine uns gewohnte Erzählliteratur der fortlaufenden, logisch oder psychologisch nachvollziehbaren Handlung.
Wie ein Spaziergang durch die kleine Stadt
Der Titel «Zeilenweise Frauenfeld» bringt es auf den Punkt. Da ist zunächst Frauenfeld,der überschaubare Hauptort des Kantons Thurgau, dessen Innenstadt man anhand des Buchs ablaufen kann. Von der Promenade und dem Regierungsgebäude in der Oberstadt durch die kleine Altstadt bis hinunter zum Bahnhofvorplatz und noch weiter hinunter zum Flüsschen Murg. Ober- und Unterstadt werden im Süden durch die Rheinstrasse verbunden (der hier weder durch- noch vorbeifliesst), die hinauf und hinunter aber immer wieder die ältere, schwarz gekleidete Frau mit ihrer Einkaufstasche geht. Eine von mehreren wiederkehrenden Figuren. Eine weitere Frauenperson ist die dunkelhäutige Manu, die zur Clique der Erzählerin gehört und immer wieder mal auftaucht.
Zum anderen verweist die Titelzeile «Zeilenweise» darauf, dass diese Prosa (weder Roman noch Erzählung) nur ausnahmsweise aus mehr als einer bis drei Zeilen besteht. So formen die 150 Seiten ein luftiges Buch, das man relativ schnell lesen kann. Betonung auf «kann». Eine Schlüsselstelle findet sich auf Seite 39: «Meisterwerke» entstehen «nicht durch die Identität des Urhebers, sondern dadurch, dass sich der Urheber dem Werk aussetzt.» «… wo sollte der Urheber … die innere Einheit seiner eigenen Person hernehmen?» Radikaler Modernismus.
Vor 26 Jahren fragte die vielfach ausgezeichnete Autorin Zsuzsanna Gahse in einem Buch: Wie geht es dem Text? Anlässlich der Neuauflage des Bandes haben wir die Frage neu formuliert.
Frau Gahse, wie geht es der Sprache? Gehen wir heute zu schlampig mit ihr um?
Das würde ich nicht unbedingt behaupten. Leute, die mit der Sprache schlampig umgegangen sind, gab es immer schon. Was mir eher auffällt ist, dass es generationsweise neue Wörter gibt und dass sich viele Gruppen anhand von diesen Wörtern definieren. Wer nicht mitmacht, gehört nicht zur Gruppe, was auch die schriftliche Sprache betrifft, vom allem aber die gesprochene.
Hat das Smartphone unsere Sprache verändert?
Ich glaube schon. Unser Sprechen hat sich an die Kurznachrichten angepasst. Die Kurznachrichten wollen eine komprimierte Ausdrucksweise, und das beeinflusst die Alltagssprache. Da man die Verkürzungen immer wieder hört und im Kopf hat, spricht man allmählich verkürzt. Aber wenn ich über Verkürzungen nachdenke, fällt mir ein anderer Trend ein, sozusagen ein Gegentrend, den ich in den neueren Büchern sehe: eine angelernte Achtsamkeit, eine bemühte Sprache mit auserlesenen oder geckigen, erfundenen Wörtern.
Gendern Sie?
Nein, auf keinen Fall. Im Ungarischen gibt es weder ein er/sie/es noch ein der/die/das. Mit diesen Hinweiswörtern kann man die Geschlechter nicht ansprechen, und wenn mir ein Freund auf Ungarisch sagt, dass er jemanden treffen wird, dann weiss ich nicht, ob er eine Frau oder einen Mann trifft. Nur spielt das keine Rolle. Die Gesellschaft verändert sich nicht dadurch, ob ich gendere oder nicht, sondern dadurch, wie ich ihr begegne. Das allerdings ist ein grosses Thema, über das wir stundenlang reden könnten. Jedenfalls habe ich früher immer gesagt, dass ich ein Schriftsteller bin. Das ist eine Berufsbezeichnung. Die Schriftstellerinnen haben denselben Beruf wie die Schriftsteller und der Beruf heisst Schriftsteller. Den Frauen gegenüber ist das nicht abfällig gemeint.
Das ganze Interview kannst du hier nachlesen:
Radikaler Modernismus gepaart mit Witz
Der aber ist gepaart mit Witz. Gahse liebt Wörter. Findet in ihnen immer neue Assoziationen oder paart sie zu Stabreimen. Sie bindet die Wörter ein in die Wirklichkeit um uns herum und erlaubt sich Absurditäten. «Mit der Mozartperücke gibt es einen geschützten Innenraum für den Kopf. Einen Fluchtraum. / Diesen Fluchtraum hat der findige Mozart genutzt, um Wolfgang und Amadeus zu werden.»
Gespaltene Persönlichkeiten, auf keinen klaren Nenner zu bringende Menschen treffen auf eine Sprache, die die Dinge, die sich uns entziehen, nur ungefähr benennen kann (die Sprachwissenschaft bezeichnet das als Nominalismus). Das ergibt bei ihr einen bunten Kosmos aus Menschen und Wörtern, die überall herumschwirren.
Letztlich ist der Ort austauschbar
Frauenfeld, so genau seine Topographie auch beschrieben wird, ist somit austauschbar mit vergleichbaren Ortschaften mittlerer Grösse. Das wird auch deutlich, wenn die Autorin immer mal weder grosse Städte wie Berlin oder Barcelona aufruft. Frauenfeld mit seinem zu warmen Sommer, den herum stromernden Menschen und den herumschwirrenden Wörtern ist überall.
Das Buch
Zsuzsanna Gahse: Zeilenweise Frauenfeld
Edition Korrespondenzen, Wien 2023
150 Seiten, 34,90 Franken
Von Jochen Kelter
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