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von Bettina Schnerr, 08.04.2019

Fragile Familienarchitektur

Fragile Familienarchitektur
„Ich bin zu faul zum recherchieren und schreibe gerne über Milieus, die ich kenne,“ gibt Autorin Doris Knecht bei der Buchpräsentation zu. „Es soll nicht aufgesetzt wirken.“ | © Bettina Schnerr

Gerade einmal zwei Wochen ist es her, dass Doris Knechts neuer Roman „weg“ in den Handel kam. Im Gespräch mit Raphaela Sabel, der Redaktionsleiterin von „Schweizer Buchhandel“, stellte die Vorarlberger Autorin vorigen Donnerstag Abend im Bodmanhaus ihren praktisch noch druckfrischen fünften Roman vor.

Am Anfang stand die Idee, zwei Menschen aus völlig unterschiedlichen Milieus auf eine gemeinsame Reise mit ungewissem Ausgang zu schicken. Für Doris Knecht entspann sich daraus die Geschichte von Heidi und Georg, die in Wien vor Jahren eine Affäre hatten. Vermutlich hätten die beiden nie wieder voneinander gehört, wäre Heidi nicht schwanger geworden. Die gemeinsame Tochter Lotte zog Heidi schon bald in einer Kleinstadt irgendwo bei Frankfurt gross, während Georg nach Vorarlberg ging, um den Gasthof seiner Eltern zu übernehmen. Ein Reihenhausidyll auf der einen Seite, mit einer Mutter, die aus ihrer Welt nicht so recht herauswill. Der Dorfwirt auf der anderen Seite, der die Meldefaulheit der inzwischen jungen Studentin Lotte für ein Zeichen hält, sie käme alleine bestens zurecht.

Doris Knechts Romane allerdings sind dafür bekannt, dass sie ihre Figuren an Abgründe führt und Lebensentwürfe ankratzt. In „weg“ ist der Auslöser dafür genau das, was der Buchtitel ankündigt: Lotte verschwindet mit einem neuen Freund nach Asien. Doch Lotte ist psychisch labil und brauchte als Jugendliche intensive ärztliche Betreuung. Sie hat eine genetische Vorbelastung, die sich durch einen vermeintlich harmlosen Joint zu einer lebensbedrohlichen Psychose auswuchs. Der spontane Ausflug, das wissen beide Eltern genau, könnte gründlich schiefgehen, denn Lotte benötigt regelmässig Medikamente.

Moderatorin Raphaela Sabel (links) und Autorin Doris Knecht (rechts) finden nicht nur ernüchternde Bestandsaufnahmen von Beziehungen, sondern auch unfreiwillige Absuridtäten. Bild: Bettina Schnerr

Der Sound ist einzigartig

Raphaela Sabel, treue Knecht-Leserin seit Jahren und Moderatorin der Buchvorstellung im Bodmanhaus, freut sich über den typischen Schreibstil der Vorarlbergerin, den sie auch im neuen Buch entdeckt. Woher der kommt, vermag Knecht nur nicht zu sagen: „Ich bin mir eines speziellen Sounds gar nicht bewusst,“ lacht sie. „Ich freue mich aber sehr, wenn meine Texte beim Leser einen so hohen Wiedererkennungswert haben. Da ich schon sehr lange schreibe, hat sich im Lauf der Zeit vermutlich einfach mein Stil auf diese Art entwickelt.“

Knecht, die zusätzlich regelmässig Kolumnen schreibt, trennt die beiden Arbeitsbereiche deutlich für sich ab. „Kolumnen sind kurz und prägnant. Da kürze ich schon im Kopf auf wesentliche Aspekte zusammen und lege eine Route fest, damit es nachher funktioniert,“ schildert sie. „Bei Büchern hingegen darf ich abzweigen, mich verästeln und Perspektiven ausprobieren. Das macht grosse Freude.“

„Wie man auf einem Mofa fahren kann“

Als wiederkehrendes Motiv begegnen dem Leser immer wieder Mofas in unterschiedlichen Varianten. Natürlich in Passagen mit ebenjenem Satz am Beginn, die Veränderungen und Empfindungen aufgreifen und spiegeln. Mit einem Mofa fuhren Heidi und Georg früher durch Wien, heute steht es kaputt im Schuppen. Es ist offenbar viel Geld wert, viele Leute haben schon dafür geboten, doch Georg will sich nicht davon trennen.

Für Knecht, aufgewachsen wie Georg auf dem Dorf, ist das Mofa ein Zeichen von Freiheit. Sich unabhängig bewegen zu können, war und ist für die Jugendlichen ungeheuer wichtig. Doch so ein Mofa kann viel mehr; es bedeuetet auch Arbeit, Transport und vielleicht sogar „weg“. Ein Buchtitel übrigens, mit dem Knecht sehr glücklich ist. „Aber es war ein langer Kampf, den ich Ihnen erspare.“ Selbst mit Angst können Mofas zu tun haben. Das erlebte die Autorin bei ihren Recherchen in Vietnam nicht nur selbst; sie hat das zu den verschiedenen Aspekten von Angst im Buch eingebaut.

Video: Doris Knecht im Interview

Wir sind nicht so cool, wie wir denken

Um Lotte zu finden, steigt Heidi erstmals in ihrem Leben in ein Flugzeug. Das ist nicht die erste Angst, die sie auf der Suche nach ihrer Tochter wird überwinden müssen. Georg und sie werden beide an Grenzen stossen und was sie sicher glaubten, steht auf dem Prüfstand. Alte Verhaltensmuster sind über die Jahre unverändert und bringen das Paar wider Willen in unsinnige Konflikte. Georg fasst seine Empfindungen so zusammen: „Lotte hatte sie zu lebenslänglich verurteilt, und da waren sie nun, zwei ganz Verschiedene, mit einem gemeinsamen Kind, für immer aneinandergeschraubt.“

Raphaela Sabel fühlt sich an eine bewusste Dekonstruktion von Lebensmodellen erinnert. In gewisser Weise Ja, sagt Knecht, aber sie sieht weitaus mehr. „Man lebt in unseren Breiten generell sehr gesättigt in jeder Hinsicht und das generiert Fehler,“ findet sie. „Man hält sich für modern oder cool, hängt aber letztlich in einem konservativen Muster fest. Junge Leute zeigen solche Widersprüche bei den Älteren auf.“ Im Umweltbereich ist für sie zum Beispiel Greta Thunberg jemand, der solche Brüche sichtbar macht. Ein bisschen sind ihre Figuren so, „wie man nicht werden möchte“.

Doris Knecht liest die ersten Kapitel ihres aktuelle Romans „weg“ vor: Die psychisch labile Tochter von Georg und Heidi verschwindet nach Asien. Bild: Bettina Schnerr

Können wir noch zusammen leben?

In Sachen Beziehung findet Sabel geradezu „ernüchternde Zeilen“. Die Midlife Crisis schlägt bei der einen oder anderen Figur erbarmungslos zu. Da fragt sich Doris Knecht nicht, ob man tatsächlich langfristig zusammen leben will, sondern ob man soll. Die früheren Abhängigkeiten seien glücklicherweise nicht mehr so prägend. „Ich sehe mehr Freiheiten,“ findet sie. „Es gibt ein Lebensglück für Frauen, wenn die sich trennen möchten.“ Beziehungen seien eine individuelle Entscheidung und es begeistert die Autorin, dass Gesellschaft und Religion immer weniger reinreden.

So viel Selbständigkeit ruft Kritiker auf den Plan, erinnert Sabel: Ein TV-Moderator empfand das als „permanente Nabelschau“ und die ständige Frage nach der eigenen Zufriedenheit führe zu weniger Kompromissbereitschaft. „Kompromisse sind in Ordnung, wenn sie für einen selbst stimmen,“ erwidert Knecht auf solche Einwürfe. „Aber ich bin froh, dass man sich eben nicht mehr ständig zusammenreissen muss, wenn Situationen nicht guttun oder gar schaden.“ In diesem Sinne leben die Patchworkfamilien in ihrem Romanen „nicht besser oder schlechter“, das ist für Doris Knecht die falsche Wertung, sondern passender.

Radio-Interview mit SRF 2 Kultur

 

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