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von Inka Grabowsky, 27.02.2024

Ein ungleiches Paar mit gemeinsamer Botschaft

Ein ungleiches Paar mit gemeinsamer Botschaft
Die Unterschiedlichkeit der Menschen erforschen - eine der Grundinteressen der Tänzerin Micha Stuhlmann. In der neuesten Produktion forscht sie gemeinsam mit dem 85 Jahre alten Werner Brandenberger. | © Simon Diefenbach

Die Tänzerin Micha Stuhlmann hat gemeinsam mit dem körperlich beeinträchtigten Werner Brandenberger «ein Duo vom allmählichen Verschwinden» erarbeitet. Die Performance feierte jetzt in Kreuzlinger Theater an der Grenze Premiere. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

«Uns geht es um die Vergänglichkeit, die der Körper ausstrahlt, die Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit.» Micha Stuhlmann zeigt sich selbst tief beeindruckt vom Mut ihres Bühnenpartners, der eine Stunde lang schonungslos seine eigenen Schwächen zeigt, um das allmähliche Verschwinden fassbar zu machen. Werner Brandenberger gibt das Kompliment zurück: «Micha hat mir 85-jährigem Greis ein Fenster in eine unbekannte Welt geöffnet. Ich hätte nicht gedacht, dass mir so etwas Schönes noch passiert.» 

Vor gut einem Jahr war Brandenberger auf Stuhlmann zugekommen. Ihn interessierte das Langzeit-Kunstprojekt «Laboratorium für Artenschutz» , in dem seit 2012 Menschen mit und ohne Beeinträchtigung kreativ daran arbeiten, um – so der Eigenanspruch – «die Unterschiedlichkeit der Menschen» zu erforschen. 

«Wir haben uns aber zunächst zu zweit zur Performance-Arbeit in meinem Atelier getroffen», so Stuhlmann. «Es erwies sich, dass das Zwiegespräch so viel ergiebiger ist als die Kollaboration im Ensemble. Werners sehr reflektierte Art und seine intensiven Suchbewegungen kommen besser zur Geltung.» Er habe zunächst aus Neugier mitgemacht, sagt der ehemalige Kantonsgerichtspräsident. «Das allmähliche Verschwinden ist ein altes Thema von mir, aber Micha kam auf die Idee, daraus eine öffentliche Performance zu machen.» 

 

Unter einer Decke: Micha Stuhlmann und Werner Brandenberger. Bild: Simon Diefenbach

Stark genug, um Schwäche zu zeigen

Immer wieder hört Micha Stuhlmann den Vorwurf, sie würde die Defizite der Ensemblemitglieder bei ihren Produktionen mit dem «Laboratorium für Artenschutz» instrumentalisieren. 

Sie verwahrt sich entschieden dagegen: «Es darf nie zur Zurschaustellung kommen. Aber wer sich beim ‹Duo vom allmählichen Verschwinden› mit dem scharfsinnigen Werner Bandenberger auseinandersetzt, kann ohnehin nicht auf die Idee kommen, einem hilflosen Opfer der Umstände gegenüberzustehen.» 

 

Micha Stuhlmann im Porträt

Mehr über die Künstlerin und Tänzerin Micha Stuhlmann kannst du in einem Porträt von Brigitte Elsner-Heller erfahren, das 2018 bei uns erschienen ist:

Überlebensstrategie für das Menschsein

Zum zweiten Mal erhält die Performerin Micha Stuhlmann einen Kulturförderbeitrag des Kantons. Mit ihrem «Laboratorium für Artenschutz» will sie der Kunst und dem Leben näher kommen. Der Beitrag ist der Auftakt unserer Serie über alle sechs Gewinner der mit jeweils 25.000 Franken dotierten Förderbeiträge des Kantons Thurgau. 
Von Brigitte Elsner-Heller

„Guten Tag, ich bin Micha Stuhlmann“. Die Website der Künstlerin, die in diesem Jahr zum zweiten Mal den Kulturförderbeitrag des Kantons Thurgau erhält (bereits 2013 war sie Preisträgerin), lässt schon bei der medial vermittelten Begrüssung ein Bild davon entstehen, wer diese Frau ist, die vor fünf Jahren ihr Domizil von einer ehemaligen Textilfabrik in Müllheim nach Kreuzlingen verlegt hat: Die Begegnung mit Menschen steht für sie im Mittelpunkt und schlägt sich entsprechend in ihrer künstlerischen Arbeit nieder. „Die Suchbewegung ist mir wichtig“, sagt sie, um gleich eine frappierende Begründung dafür zu liefern: Sie wisse ja nichts. Das sei eine Herausforderung, die bei jeder Begegnung mit Menschen vorhanden sei. „Ein erster Eindruck, die Stimme, vielleicht eine E-Mail … und dann steht dieser Mensch vor einem.“ Weiterlesen.

 

Autobiografischer Kern mit gesellschaftlicher Wirkung

Im Mittelpunkt des Stücks steht die Leidensgeschichte Brandenbergers, die begann, als er mit zwei Jahren an Poliomyelitis, also Kinderlähmung, erkrankte. In der Folge wuchsen die Knochen und Muskeln des linken Beins nicht genauso wie auf der rechten Seite. «Fünf Zentimeter in Länge und Umfang liessen mich aus dem Raster des durchschnittlichen Kleinbürgers herausfallen», lässt er Micha verlesen. 

Heute sei er polymorbid: «Ich bin Mieter in meinem Körper. Ich habe einen Mietvertrag ab Zeit. (...) Die Wände sind gelb vom Rauch, die Leitungen kalkig (...) Bald erwartet mich der Rausschmiss.» Die Qualität der Texte des ehemaligen Juristen hat Micha Stuhlmann überzeugt: «Werners Stärke ist es, poetisch und gleichzeitig punktgenau zu formulieren.» 

 

Micha Stuhlmann in Aktion. Bild: Simon Diefenbach

Worte in Bewegung, Musik und Bild umgesetzt

Ihre Stärke ist es, die Sprache in Bewegungen und Gesten umzuwandeln und zu visualisieren. Zum Sound von Marc Jenny und den Videoinstallationen von Raphael Zürcher tanzt sie durch den Raum und verspricht dem alten Mann Unterstützung. Einer trägt des andern Last. Sie schlüpft in sein Hemd, er in ihren Blümchen-Morgenmantel. Sie beginnt zu humpeln, weil sie mit einem Rinderknochen eines ihrer Beine um 5 Zentimeter verlängert. Eng umschlungen tanzt das Paar, bis es erschöpft auf einem Kissen am Boden landet. Das Mantra des Abends «Stille – Sitzen – Staunen» wird auf seine nackte Brust gemalt, ebenso wie «Angst» und «Chaos». 

Aus Zucker streut sie einen magischen Kreis um sein Lager. Mit Hilfe eines Flambier-Brenners entsteht eine Karamellschicht, deren Duft den Raum erfüllt. Am Schluss wird einer der Besucher im Veranstaltungszentrum Kult-X nicht widerstehen können. Er taucht seinen Finger in die Masse. Das Leben ist süss. 

 

Mit dem Flambier-Brenner wird der Zuckerkreis als Karamell-Parfum zum archaischen Duft-Opfer. Bild: Inka Grabowsky

Schwarzer Humor hilft

«In welchem Bewusstsein möchtest du sterben», fragt sie ihn. «Wenn das Leben ausgetrunken und leergegessen ist, machst du dich dann aus dem Staub?» Der Tod ist allgegenwärtig in der Performance, was nicht heisst, dass es todtraurig zugeht. Werner Brandenberger beweist einen trockenen Humor. Micha Stuhlmann steht ihm in nichts nach. 

Er stellt ihr seine Lieblings-Suizid-Methode vor: sich im Wald bei Minus 20 Grad mit Wasser übergiessen. Das sei nicht allzu schmerzhaft, überfordere die Auffindenden nicht, und todsicher sei es auch. Sie meint: «Aber minus 20 Grad gibt es nicht mehr in unseren Breiten.» Das Premierenpublikum muss trotz der tragischen Situation lachen. 

Selbstironie blitzt auf, als sie ihn auf dem gemeinsamen Lager um Ratschläge fürs Leben bittet: «Erstens: Nein ist in der Regel die bessere Antwort. Zweitens: Sich verlieben ist keine gute Idee. Und drittens: Meide die Öffentlichkeit. Bleib zuhause, da ist auch was los. Und vor allem Kontingenz: Es könnte alles ganz anders sein. Sind das jetzt Lehr- oder Leersätze? Das bleibt dir überlassen.» 

 

Raphael Zürcher projiziert mit Hilfe von Wasser, Licht und Farbpartikeln ein Universum auf die Wand. Bild: Inka Grabowsky

 

 

Weitere Termine

Weitere Aufführungen der Performance sind beabsichtigt, aber noch nicht terminiert. Näheres auf der Website von Micha Stuhlmann. 

 

 

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