von Maria Schorpp, 18.11.2021
Ein literarisches Alpenpanorama
Zsuzsanna Gahse erobert in ihrem neuen Buch „Bergisch teils farblos“ das Hochgebirge auf ihre Weise und demonstriert in 515 Anmerkungen ihre immer wieder in Erstaunen versetzende literarische Sicht auf ihre Umgebung. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Das Ich in Zsuzsanne Gahses Buch „Bergisch teils farblos“ hat offensichtlich ein Problem mit den Alpen. Als unpersönliche nackte Steinwände, zudem noch sturzbereit, nimmt es sie beim Durchqueren wahr. Schreckgestalten seien es, „einfachheitshalber Monster genannt“, bedrohlich, unberechenbar. „Ommel“ heissen sie manchmal auch.
Klingt fast wie ein Kosewort, als wolle man sich über die Giganten ein bisschen lustig machen, um so den von ihnen ausgehenden Schrecken zu bannen. Der Sound ist wichtig in den Texten der Schriftstellerin Zsuzsanne Gahse.
Trotz Vorbehalte geht es in die Alpen
Obwohl ihr, wie sie einmal erwähnt, das weite Land lieber ist, macht sich die Ich-Erzählerin auf, Berge und Täler des Hochgebirges sowie dessen Bewohner zu bereisen. Über das Warum dieser Bergerkundungen per Bahn, Auto und zu Fuss lässt sich angesichts der Vorbehalte spekulieren, wie es sich überhaupt viel spekulieren liesse über diese genau 515 Anmerkungen der Preisträgerin des Schweizer Grand Prix Literatur des Jahres 2019.
Vielleicht jedoch ist man besser beraten, die Fragmente so zu nehmen, wie sie sich präsentieren: als teils essayistisch scharfsinnige Beobachtungen, teils frappant multiperspektivische Notizen zu den Alpen, den Menschen und ihrer Sprache – einschliesslich literarischer Demonstration, wie Aussagen über die Welt auch möglich sind.
Dabei trifft die Reisende immer wieder mit einem kleinen imposanten Grüppchen von Menschen zusammen, die die Leidenschaft für die penibel genauen Momentaufnahmen ihrer Umgebung teilen. Den Hund nicht zu vergessen.
Die zwei originellsten Geschwister im Geiste sind Manu und Sam, die anhand von Fotografien und Tonaufnahmen Personenporträts sammeln. Sam, der Architekt, würde die Alpen am liebsten umbauen, mit Kitt und Gips flicken. Andernorts gibt es Überlegungen, ihre Berge als Schachfiguren zu benutzen.
Auf den Sound kommt es an
Eine leidenschaftliche Reisende ist diese Ich-Person, eine Neugierige, deren Blick in die Welt hinaus denkbar unkonventionell ist. Insbesondere in den Erzählinseln, wie Zsuzsanna Gahse ihre Textstücke mit Handlungsstrang nennt, wird man beim Lesen in Szenerien versetzt, die in ihrer Unmittelbarkeit vereinzelt an Filmszenen erinnern. Der Sound eben.
Es geht in dem neuen Buch der Schriftstellerin, die seit vielen Jahren im thurgauischen Müllheim wohnt, also bei weitem nicht nur um die Alpen, wenn diese auch den Bezugspunkt darstellen, auf den die Erzählerin nach ihren gedanklichen Ausflügen immer wieder zurückkommt.
Dabei ist ihr Blick garantiert illusionslos. Da werden in durchaus schwärmerischem Anflug und mit subtiler Empfindsamkeit Farben beschrieben und eingeordnet, aber auch die bizarren Varianten der Ausbeutung dieser Bergwelt aufgeführt.
Es ist nicht ohne Witz, wie sie in lapidarem Tonfall ihr Erstaunen über die Menschen durchklingen lässt, die aus welchen Gründen auch immer wahlweise mit Bussen auf die Höhen verbracht werden oder gar selbstständig noch weiter an den Felswänden hochkraxeln. Kleine Seitenhiebe inbegriffen, so beispielsweise zu den Rasern und Dränglern auf kurvenreichen Alpenpässen, am besten bei Nebel oder Regen, die den Auswärtigen zu verstehen geben sollen, wer hier zu Hause ist – und wer nicht.
Die Menschen sind sprachsüchtig
Beiträge zu aktuellen Diskussionen sind ebenfalls zu finden, an Beobachtungen gereifte Überlegungen etwa, wann die Frage, woher jemand stammt, stimmig und wann sie diskriminierend ist. Auf die Frage „Wo kommscht her“, stelle sich oft heraus, „dass der Antwortende seine Sprache fünf Kilometer vom Fragenden entfernt eingeträufelt bekommen hat“. Die Menschen seien sprachsüchtig, heisst es in einem Fragment, eine Erkenntnis, die die Ich-Person in ganz besonderer Ausprägung verkörpert.
Sprache führt ein Eigenleben, was in der Notizensammlung sehr schön zu beobachten ist. Angesichts des von einem Wirt geäusserten Wort „Briäder“ für Bruder fliegen die Vokale und bekommen Schrammen. Ein Wort fährt los und prallt gegen die Wand, wobei es seinen Sinn ändert, ein Wort ergibt ein anderes, ein Satz erwächst aus einem vorherigen. Etymologie ist für das erzählende Ich Orientierung in den Alpen. Es gibt hier keine Trennung zwischen Gedanken- und Dingwelt.
Lesung aus «Bergisch teils farblos»
Beim Versuch, die Notizen thematisch zu sortieren, kommt die zu Beginn befremdlich erscheinende Idee eines begehbaren Tagebuchs auf. Solch aussergewöhnliche Bilder sind eine Spezialität der Autorin.
Doch Sams Idee stösst bei der Ich-Erzählerin auf Skepsis. Die Ein- und Zuordnung widerspricht ihrem Welt- und Sprachverständnis, in dem alles verquickt ist und nichts einen ausschliessenden Wahrheitsbegriff herausfordert.
So ist das Ich dann auch dafür, die Notizen aus den Bergen wie Spielkarten zu verstehen, die ihre Anordnung durch Mischen erhalten. Oder wie Eisenspäne, die sich durch Anziehungskraft selbst zu einem Bild anordnen. Was könnte die zurückgenommene Haltung dieser einzigartigen Autorin treffender in Worte fassen.
Das Buch & die Lesung
Zsuzsanna Gahse, „Bergisch teils farblos“, 176 Seiten, Edition Korrespondenzen, Wien 2021.
Am Sonntag, 21. November, 11 Uhr, liest Zsuzsanna Gahse im Literaturhaus Thurgau aus „Bergisch teils farblos“.
Von Maria Schorpp
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