von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 21.12.2020
Ein kluges Wagnis

Wie ein Befreiungsschlag: Mit dem interdisziplinären Projekt „Ratartouille“ meldet sich die Kulturstiftung zurück im kulturpolitischen Diskurs. Warum das eine grosse Chance ist. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Endlich. Die Kulturstiftung des Kantons meldet sich zurück im öffentlichen Diskurs über Kultur. Die Neuausrichtung mit der Konzentration auf das neue Mehrspartenprojekt „Ratartouille“ ist zumindest ein weiteres Indiz dafür. Viel zu lange, ziemlich genau seit der Debatte um ihre Fördervergabepraxis 2016, war die Stiftung kulturpolitisch verstummt. Es wirkte ein bisschen so als habe, ein scheues Wesen nach all der Öffentlichkeit es erstmal vorgezogen, den Kopf einzuziehen und einige Jahre im eigenen Schneckenhaus zu verschnaufen.
Seitdem Stefan Wagner Beauftragter der Stiftung ist, hat sich diese Haltung offenbar verändert: Man traut sich wieder etwas. Allein das ist schon mal eine gute Nachricht für alle, die an Kultur interessiert sind. Denn nichts ist für das Kulturleben so tödlich wie einsame Einsiedelei und satter Stillstand. Die neue Initiative „Ratartouille“ sprengt genau diese Ruhe. Und das ist gut so.
Der erste Schritt: Es wird wieder debattiert
Keine Frage: Das interdisziplinäre Format mit seinen vagen Konturen ist ein Wagnis von dem man heute noch nicht sagen kann, ob es gut ausgeht. Aber allein die Tatsache, dass es überhaupt wieder Diskussionen über so ein sperriges Thema wie Kulturförderung ausgelöst hat, zeigt die kluge Anlage des Projekts. Es lässt bewusst einige Aspekte offen, damit eine Debatte überhaupt erst möglich wird. Teilhabe wird erst erreichbar, wenn man tatsächlich mitbestimmen kann und nicht etwas fest Formatiertes nur ausführen darf.
Viele der Kritikpunkte, die nun genannt werden - zu populistisch, zu unkonkret, zu beliebig - sind in Wahrheit nur eines - Ausreden. Damit sich die Kulturförderung ja nicht so etwas Banalem wie dem Zeitgeist stellen muss. Als müsste nicht auch Kulturförderung Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel finden. Dabei muss sie genau das, will sie kein Akzeptanzproblem bekommen.
Warum sich auch Kulturförderung anpassen muss
Der Kulturbegriff hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, da ist es nur logisch und konsequent, wenn auch die Kulturförderung darauf reagiert und sich öffnet. Zwei Beispiele dazu: Der lange Zeit reflexhaft betonte Unterschied zwischen ernsthafter und unterhaltender Kultur, ist so heute kaum noch aufrechtzuerhalten. Im besten Fall sind Kulturprojekte heute ernsthaft und unterhaltsam. Auch Hochkultur und Populärkultur kann man heute nicht mehr so einfach trennen. In beiden Feldern gibt es spannende, innovative Projekte ebenso wie es langweilige und überholte Ansätze gibt.
Die Spielarten von Kultur sind so vielfältig und divers, wie es ihr Publikum ist. Kulturförderung muss das berücksichtigen, will sie nicht ihre Berechtigung verlieren. Am Ende ist es so: Kluge Kulturpolitik hält Nischen am Leben, verkriecht sich aber nicht in ihnen.
Angst vor dem Publikum ist ein schlechter Ratgeber
Genau diesen Ansatz verfolgt „Ratartouille“: Das Projekt öffnet die Stiftung jenseits der üblichen Kulturbubble. Es baut Brücken zwischen Kulturschaffenden und Publikum. Es hat das Potential gegenseitige Vorbehalte aufzulösen: Kultur ist nicht immer schwer und kompliziert ebenso wie das Publikum nicht immer denkfaul und unterhaltungssüchtig ist.
Statt Angst vor dem Publikum, statt einer resignativen Verzagtheit angesichts einer bevorstehenden Mehrheitsentscheidung, sollten die Kulturschaffenden das Projekt vor allem als Chance begreifen. Als Chance gemeinsam im Kollektiv (alleine wird es nicht gelingen) etwas Grosses zu schaffen.
Genau das richtige Projekt für unsere Zeit
Denn: Es gibt KünstlerInnen die Möglichkeit wirklich zu gestalten - und nicht nur auf fixe formale Vorgaben zu reagieren. Bei allen Detailfragen, die man zur Durchführung des Projektes noch haben kann: Insgesamt ist es das genau richtige Projekt für unsere Zeit.
Pro & Contra
Wir beleuchten das Thema in einem Pro- und Contra. Während Michael Lünstroth die Neuausrichtung positiv betrachet, sieht Jochen Kelter die Entwicklung kritisch. Seinen Beitrag «Am Scheideweg» könnt ihr hier lesen.
Mehr davon: Die Details zum Projekt Ratartouille und alle Ausschreibungsformalitäten haben wir hier für euch zusammengefasst.
Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist eine von zwei AktionärInnen der gemeinnützigen Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. Alle Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch findet ihr hier.

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