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von Inka Grabowsky, 25.06.2025

Die Zeit in der Hand

Die Zeit in der Hand
Auch Museumsdirektor Hannes Geisser kann den handschmeichlerischen Qualitäten von gerundeten Kieseln nicht widerstehen. | © Inka Grabowsky

Das Naturmuseum Thurgau stellt noch bis April 2026 Steinchen ins Rampenlicht, die man im Alltag oft ignoriert. Dabei ist jeder Kiesel ein Unikat, das eine Jahrmillionen alte Geschichte erzählt. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

«Der Verrucano aus Graubünden ist mein Lieblingsstein», sagt Museumsleiter Hannes Geisser. «Eisenoxid verleiht ihm einen schönen Rotton. Und anders als andere Sedimentgesteine ist er rund 250 Millionen Jahre alt. Man hält Zeit in der Hand, wenn man einen findet.» 

Im Sonderausstellungsraum im Naturmuseum in Frauenfeld kann man aus dem Vollen schöpfen, wenn man sich für schöne Steine interessiert. Vielleicht begeistert man sich doch lieber für den leichten Quelltuff, der aus kristallisiertem Kalk besteht und sehr porös ist. «Weil er trotz seines geringen Gewichts stabil ist und leicht zu bearbeiten, hat man ihn früher zum Bau von Fensterbögen eingesetzt», erzählt Geisser.  

Die Frauenfelder haben die Ausstellung «Kleiner Kiesel ganz gross» aus Winterthur übernommen. Die sieben Kieselstein-Modelle, die auf Felsblock-Dimensionen vergrössert wurden und mit Klappen und Schubladen versehen sind, gelangten nur mit Mühe durch die Tür zum Sonderausstellungsraum im dritten Stock des Museums. 

 

Ein besonders originelles Exponat: So einen «Hirnstein», geformt von Blaualgen, findet man nicht alle Tage. Bild: Inka Grabowsky

Viele Fragen und ein paar Antworten

Die Ausstellung behandelt Fragen wie: Welches Gestein bildet die Kiesel? Woher kommen sie? Wie nutzt der Mensch die Kiesel? Was lebt auf dem Kies? (Die Antworten reichen von der Kieselalge über die Köcherfliegen-Larve bis zur Stockentenfamilie. Ein ausgestopfter Erpel ist gerade im Anflug an ein Nest im Diorama.) 

Dann geht es um die Details: Wie kommen die Muster in den Stein? Eine Animation erleichtert hier das Verstehen: Durch tektonische Kräfte entstehen Klüfte im Gestein. Wasser, in dem Mineralstoffe wie beispielsweise Kalk gelöst sind, dringt ein. Sie kristallisieren im Laufe der Zeit aus. Und schon nach ein paar Millionen Jahren Erosion hat man einen dunklen Kieselstein mit weissen Linien. 

 

Eine geologische Karte vom Thurgau erklärt nicht nur, wo welches Gestein vorkommt, sondern auch, wie es entsteht. (7,50 Franken im Museumsshop) Bild: Inka Grabowsky

Steingewordene Poesie 

Äusserlich sind die Ausstellungs-Module real existierenden Kieseln nachempfunden. Die wenige Zentimeter grossen Originale kann man unten im Empfang des Naturmuseums sehen. Die rosarote Farbgebung der eingebauten Schatullen verstärkt den Schatzkisten-Effekt. Die Steinchen leuchten. 

Und sie machen Geräusche. Eine animierte Grafik zeigt, wie Felsen von einem Berggipfel abbrechen und dann in einem Flussbett langsam rundgeschliffen werden. Dazu hört man, wie sie im Grundrauschen des Wassers aneinanderstossen. Vom «Singen der Steine» sprach der Dichter Harry Rowohlt anlässlich eines Bades in der Aare bei Bern. 

Poetisch schön findet Hannes Geisser die Bezeichnung für den Natur-Schliff: Ein Kiesel kann kugelig-, flach-, kanten- oder stängelig-gerundet sein. Wie bei den seltenen Edelsteinen ist es auch bei Kieseln der Schliff, der für spektakuläre Effekte sorgt. Wer «anthropogene Kiesel» bewundert, der sieht abgeschliffenes Glas (Nixentränen), kugelig-gerundeten Bauschutt und kanten-gerundete Dachziegel. 

 

Nach dem Besuch der Ausstellung kann man kein Kiesbett mehr unbefangen betrachten. Museumsleiter Hannes Geisser entdeckt auf der Plakatwand Verrucano, Granit und Quarz. Bild: Inka Grabowsky

Interdisziplinäre Wissenschaft

«Mich hat besonders angesprochen, dass der Zugang zum komplexen Thema Geologie so niederschwellig ist», sagt Hannes Geisser. «So faszinierend das Thema ist: Es ist nur von Fall zu Fall sichtbar. Aktuell sind Geologen wegen des Bergsturzes von Blatten gefragte Gesprächspartner in den Medien.» 

Aber Geologie bleibt anspruchsvoll. Wissen aus Chemie, Physik und Biologie kommt zusammen. «Manches übersteigt auch meine Vorstellung. Es wirken unglaubliche Kräfte, und das über riesige Zeitspannen. Und wenn ausnahmsweise mal etwas schnell geht, dann wird es sofort bedrohlich.» Auch für den Biologen Hannes Geisser gibt es viel zu lernen: «Mir war nicht bewusst, dass Geologen gar nicht von ‹Kieseln› sprechen. Das ist ein Begriff aus dem Volksmund. ‹Kies› dagegen gibt es schon – in feiner-, mittlerer- oder grober Körnung.» 

Die Begriffe kann man sofort anwenden, wenn man sich das Modell eines Bohrkerns vornimmt. Es ist etwa einen Meter lang und repräsentiert mehrere hundert Meter Erdboden. Unter der Grasnarbe finden sich im Thurgau Feinkies, Grobkies, Moränenschutt und Molasse. «Chancen auf Fossilienfunde haben wir hier nicht», lacht der Museumsleiter, «Ammoniten oder Saurierspuren, wie sie im Jura sichtbar sind, sind bei uns alle überdeckt oder erodiert.» 

 

Die steinförmigen «Vitrinen» haben reale Vorbilder. Bild: Inka Grabowsky

Mitmachen möglich

Die Ausstellung macht sich zu Nutze, dass jeder einen Bezug zu Kieselsteinen hat. Die Gestalter nutzen die private Sammellust explizit beim siebten Modul im Nebenraum. Hier kann man sein Lieblingsfundstück der Ausstellung zufügen. Wer nichts dabei hat, kann an Zeichentischen in Steinoptik seinen eigenen Kiesel gestalten und eine Wand damit dekorieren. Das Rahmenprogramm bietet noch mehr, zum Beispiel den Vortrag «Verrückte Kiesel» am 20. Januar 2026 oder den Bestimmungscrashkurs am 21. März 2026. 

Wer nach dem Besuch im Naturmuseum in Frauenfeld noch nicht genug von Kieselsteinen hat: Noch bis 24. August läuft im Diessenhofer Museum Kunst und Wissen die Ausstellung «RHEINREICH steinreich» mit Werken von Iris Dressler und Brigitte Enz Woodtli. Die beiden haben sich mit der Schönheit von Fluss-Steinen befasst.

Die Ausstellungsdaten

«Kleiner Kiesel ganz gross» im Naturmuseum Thurgau in Frauenfeld, noch bis zum 19. April 2026. Eintritt frei. Montags geschlossen, Dienstag bis Freitag ab 14 Uhr geöffnet, am Wochenende ab 13 Uhr. 

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