von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 25.08.2020
Die Teamspielerin
Mehr Frauen, mehr Diskurs, mehr Offeheit: Karin Becker, neue Intendantin am Theater Konstanz, hat trotz Corona grosse Pläne für ihre erste Spielzeit am Bodensee. Am 26. September geht es los.
Es gibt so Momente im Leben, die vergisst man nicht. Für Karin Becker kam ein solcher Moment an einem Abend im Juli 2018. Sie war gerade vom Konstanzer Gemeinderat zur neuen Intendantin des Theater Konstanz gewählt worden. Nach der offiziellen Wahl und den ersten Glückwünschen fand sie sich plötzlich alleine in der für sie noch fremden Stadt wieder. „Ich habe mich über die Wahl wahnsinnig gefreut. Aber es war nach der grossen Freude auch ein bisschen seltsam, in dieser für mich damals noch unvertrauten Stadt alleine zu stehen und zu wissen, das wird jetzt meine Heimat“, erinnert sich Becker.
Zwei Jahre ist das jetzt her und nun, am 26. September 2020, eröffnet sie ihre erste Spielzeit am Theater Konstanz. Was für ein Theater können die Menschen in der Region von ihr erwarten? „Mir ist wichtig, dass wir das Haus öffnen. Die Menschen sollen aber nicht nur zu unseren Vorstellungen kommen, einen Sekt in der Pause trinken und dann sieht man sich in vier Wochen wieder zur nächsten Premiere. Wir wollen diskursiver, integrativer, offener werden“, erklärt die 52-Jährige ihr Theaterverständnis im Gespräch mit thurgaukultur.ch.
Wie das Theater ein Ort des respektvollen Streitens werden soll
Unter anderem ruft sie dafür die Gesprächsreihe „Lasst uns reinen Tisch machen“ ins Leben, in der BürgerInnen über aktuelle Themen streiten sollen. Das Ziel: Austausch fördern, Filter-Bubbles umgehen, miteinander sprechen und vor allem auch - zuhören. „Und dem anderen mit Respekt und Achtung begegnen, auch wenn er eine andere Meinung hat“, sagt die Intendantin. Ein besonderes Augenmerk gilt ihr insgesamt der Sprache. Gerade angesichts des verrohenden öffentlichen Diskurses: „Wir müssen wieder mehr darauf achten, welche Worte wir in welchem Kontext verwenden“, sagt Becker. Theater könne zur Sensibilisierung beitragen, findet die Intendantin.
Becker stammt aus Stuttgart, ist seit fast 30 Jahren im Theaterbetrieb. Angefangen hat sie bei der Württembergischen Landesbühne Esslingen, dem Jura-Soyfer-Theater in Wien und dem Theaterhaus Stuttgart, später arbeitete sie am Schauspiel des Staatstheaters Stuttgart als Produktionsleiterin und Disponentin. Zuletzt war sie künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater in Hamburg.
„Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, den Mund aufzumachen gegen Entwicklungen, die einem Sorgen bereiten.“
Karin Becker, Intendantin Theater Konstanz
Karin Becker ist überzeugt davon, dass Theater sich einmischen muss in gesellschaftliche Debatten: „Ich bin absolut dafür, mutig zu sein. Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, den Mund aufzumachen gegen Entwicklungen, die einem Sorgen bereiten. Dinge, die gesagt werden müssen, müssen auch gesagt werden“, findet die Intendantin. Das merkt man auch ihrem Spielplan an. Das Eröffnungsstück ihrer Spielzeit ist „Jeder stirbt für sich allein“ nach dem Roman von Hans Fallada (Premiere ist am 26. September). Eine Geschichte über ein Ehepaar, dass nach dem Tod ihres Sohnes im Krieg zu Gegnern des Nazi-Regimes wird. Und am Ende hingerichtet wird. Der Stoff geht zurück auf die wahre Geschichte des Berliner Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel.
Das gesamte Programm steht unter dem sehr offenen Spielzeit-Motto „Einmal Welt, bitte!“ Was darunter zu verstehen ist, erklärt Karin Becker so: „Wie gehen wir mit unserer Welt, den Ressourcen, der Umwelt um? Wie gehen wir miteinander um? Welche Werte vertreten wir? Wer ist eigentlich „wir“ und wer gehört dazu? Immer wieder können diese Fragen gestellt werden, sie lassen sich auch weiterdenken und ins Utopische spinnen. Und das Theater versteht sich dabei als Sprachrohr der Gesellschaft.“ Ein Instrument dafür: das neue Stadtensemble. Menschen zwischen 16 und 99 aus der Region sollen hier ein halbes Jahr lang ein eigenes Stück auf der Grundlage von Ödön von Horváths „Hin und her“ entwickeln. Wer mitmachen will: Ein erstes Treffen gibt es am 10. Oktober (11 Uhr) auf der Werkstattbühne in Konstanz.
Nach 14 Jahren Nix ist wieder Aufbruch in Konstanz spürbar
Auch sonst findet sich auf dem neuen Spielplan (ein PDF des Spielzeitheftes gibt es hier) vieles, das Lust macht auf Theater. Heinrich Bölls „Katharina Blum“, „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ von Edward Albee, „Farm der Tiere“ von George Orwell, die Oscar-Wilde-Komödie „Der ideale Mann“. Ebenfalls im Programm: Elfriede Jelinek („Das Licht im Kasten“), Leo Tolstoi („Anna Karenina“) und William S. Burroughs („The Black Rider“) kommen auf die Bühne. Dazu noch spannende Stückentwicklungen wie der Stadt-Theaterrundgang „Generation Extinction“ oder „Nibelungenleader“, die aktuelle gesellschaftliche Debatten rund um Klimakrise, Gendergerechtigkeit und die Frage, wie wir heute eigentlich miteinander leben wollen, aufgreifen. Nach 14 Jahren unter Christoph Nix verspricht das neue Spielzeitheft nun so etwas wie einen frischen Wind. Aufbruch ist wieder spürbar am Bodensee.
Das hat auch mit dem neuen Geist im Leitungsteam des Stadttheater zu tun. Denn: Karin Becker ist zwar die Intendantin, aber sie kommt mit einem Team an den Bodensee. Viel mehr Frauen als bislang werden das Profil des Hauses prägen. Chefdramaturgin Doris Happl kommt aus Wien, die Dramaturginnen Romana Lautner, Hannah Stollmayer und Meike Sasse sind ebenso neu wie die künftige Hausregisseurin Franziska Autzen. Auf der Bühne wird sich das neue weiblichere Bild des Theaters ebenfalls zeigen: Das 26-köpfige Schauspielensemble ist paritätisch zusammengesetzt. Und: Im März 2021 soll erstmals das Frauentheater-Festival „Let’s ally“ starten. Einziger Mann im Leitungsteam wird der neue Chef des Kinder- und Jugendtheaters: Kristo Šagor.
Beckers Führungsstil setzt auf Kooperation statt Konfrontation
Ihre eigene Rolle in ihrem Leitungsteam sieht Karin Becker dabei vor allem als „Kunst-Ermöglicherin“. „Ich bin ein Team-Mensch und finde es wichtig, Meinungen einzuholen. Ich kann ja nicht alles selbst am besten wissen“, sagt die 52-Jährige. Sie selbst wird auch keine Regie-Arbeit in der ersten Spielzeit übernehmen, sondern sich darauf konzentrieren, die richtigen Menschen zusammenzubringen.
Damit unterscheidet sie sich fundamental von ihrem Vorgänger Christoph Nix. Der verstand seine Intendanz noch im Wesentlichen als One-Man-Show. Wenn es ihm angemessen erschien, liess er Konflikte auch gerne mal eskalieren. Als Journalist konnte es einem passieren, dass man auch mitten in der Nacht Mails von Christoph Nix bekam, deren Inhalt einigermassen, nun ja, diffus war. Kaum vorstellbar, dass JournalistInnen solche Mails von Becker je erhalten werden.
Versteht man Karin Becker richtig, dann setzt sie lieber auf Kooperation als auf Konfrontation. Auf Vergleiche mit Nix will sich Karin Becker aber gar nicht erst einlassen: „Herr Nix hat hier 14 Jahre einen tollen Job gemacht. Aber es war seine Wegstrecke und wir müssen jetzt unseren eigenen Weg gehen“, sagt Becker.
Corona: Statt 400 dürfen nur noch 97 ZuschauerInnen rein
Die grösste Herausforderung für ihre erste Konstanzer Spielzeit hat sechs Buchstaben: Corona. Und damit einhergehend die Frage, wie Theater in Zeiten der Pandemie möglich sein kann. Es gibt inzwischen ein umfangreiches Hygienekonzept. Die augenfälligste Konsequenz daraus: Die Dekonstruktion des Zuschauerraums. Etliche Sitze wurden im grossen Saal des Stadttheaters entfernt, um die geforderten Mindestabstände einhalten zu können. Das bedeutet auch: Statt 400 werden künftig noch maximal 97 ZuschauerInnen eingelassen. In den beiden anderen Spielstätten, Spiegelhalle und Werkstatt, wurden die Sitzplätze ebenfalls stark reduziert.
Für das Haus bedeutet das weniger Einnahmen und mehr Arbeit. Weil vor allem die Abo-Stücke häufiger gespielt werden müssen, um alle AbonnentInnen bedienen zu können. Der Aufwand, den die Pandemie von den Theaterleuten für den täglichen Betrieb abverlangt, ist immens. Requisite, Technik, Werkstätten - für alles gibt es detaillierte Vorschriften. Hört man Karin Becker genau zu in diesem Punkt, dann staunt man sehr, dass in dieser Lage überhaupt irgendein Theater seine Türen öffnet. Wie lange das gut gehen kann, weiss derzeit niemand so recht. Bislang plant Karin Becker mit diesem eingeschränkten Betrieb bis Ende des Jahres. Danach wäre es dann schon gut, wenn so etwas wie Normalbetrieb wieder möglich wäre. Um das Budget und die MitarbeiterInnen zu entlasten.
„Theater lebt davon, dass wir im direkten Austausch mit den ZuschauerInnen sind.“
Karin Becker, Intendantin Theater Konstanz
Aber was soll sie auch sonst tun? Den Kopf in den Sand stecken und das Theater geschlossen lassen? Das ist für sie ebenso wenig eine Lösung, wie verstärkt auf digitale Formate zu setzen. „Ganz ehrlich: Theater lebt davon, dass wir im direkten Austausch mit den ZuschauerInnen sind und deshalb spiele ich im Zweifel lieber vor 50 Zuschauern als mehr Videoformate zu produzieren“, sagt Becker.
Damit wäre man dann wieder bei einem Wesenskern von Karin Becker: Dinge zu tun, damit sie getan sind? Oder weil andere sie tun? Nicht ihr Ding. Sie will lieber eigene Konzepte entwickeln von denen sie selbst überzeugt ist und mit denen sie dann andere überzeugen kann. Nicht der schlechteste Ansatz für den Beginn einer neuen Intendanz.
Was wird aus Kooperationen mit Schweizer Theatern?
In der Vergangenheit gab es immer wieder verschiedene Kooperationen mit Schweizer Theatern. So zum Beispiel der Autorenwettbewerb mit dem Theater St. Gallen. Plane für neue Kooperationen gebe es bislang noch nicht, sagt Karin Becker. „Wir wollen die erste Spielzeit dazu nutzen, in Konstanz und der Region anzukommen. In der zweiten oder dritten Spielzeit kann ich mir aber auch grenzüberschreitende Projekte vorstellen.“ Das hänge aber von Ideen und den beteiligten Menschen ab: „Wir wollen den Menschen begegnen und wenn es da Klick macht und wir eine gemeinsame Idee entwickeln können, dann machen wir das. Und wenn nicht, dann nicht.“
Der Kanton Thurgau unterstützt das Theater Konstanz jährlich mit 120'000 Franken aus dem Lotteriefonds.
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