von Inka Grabowsky, 19.11.2024
Die Musikerklärer
Hört man Musik anders, wenn man weiss, wie sie entstanden ist? Das Orchester Divertimento hat ein spannendes neues Musikvermittlungsprojekt gestartet. Die Musiker:innen spielen, zwischendrin erklärt ein Moderator Hintergründe zu den einzelnen Werken. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Auf dem Programm stand ein «Best of» der Renaissance- und Barock-Musik: Palestrina, Corelli, Händel, Bach und als Überleitung in die Moderne noch der relativ unbekannte Ottorio Respighi, der erst 1936 gestorben ist. Das Programm war also geeignet, jene Musikfreunde in die Säle zu locken, die klassische Musik wegen ihrer Ohrwurmqualität lieben.
Doch die bis zu 500 Jahre alten Evergreens hatte Orchesterleiter Oleksandr Chugai nicht aus Populismusgründen gewählt. Anhand der bekannten Beispiele wollte der Musikpädagoge zeigen, wie Musik entsteht: «Viele Musikliebhaber denken, Komponieren brauche Bauchgefühl und Talent – dabei liegen den Stücken feste Strukturen zugrunde.» Das Motto der Konzerte in Konstanz und Kreuzlingen wies darauf hin: «Klangkathedrale – Musik und ihre verborgenen Strukturen».
«Viele Musikliebhaber denken, Komponieren brauche Bauchgefühl und Talent – dabei liegen den Stücken feste Strukturen zugrunde.»
Oleksandr Chugai, Orchesterleiter
Die Strukturen arbeitete als Moderator Valentin Metzger heraus. Er ist seit dem Sommer Leiter der Musikschule Kreuzlingen. «Die Musik aus dem Barock und der Renaissance war ein Schwerpunkt in meinem Studium, so dass ich gerne zugesagt habe, als das Orchester angefragt hat», sagt er. Auch er betont: «Die Komponisten waren keine Wunderkinder, sondern konnten auf harmonische Regeln und auch auf bewährte Publikumserwartungen zurückgreifen.»
Es gibt für musikalische Laien viel zu lernen: Monophonie klingt anders als Polyphonie. Ein Dux gibt das Thema vor, der Comes antwortet. Und damit es nicht langweilig klingt, gibt es Variationen des Motivs: Umkehrung, Augmentation – unten unter all dem der Orgelpunkt. Bald schwirrt einem der Kopf. Doch da das Orchester all diese Phänomene demonstriert, ist es plötzlich gar nicht so schwierig.
Video: So klingt das Orchester Divertimento
Schwärmen ist immer noch erlaubt
So ganz frei von Bewunderung ist allerdings Moderator Metzger auch nicht. Giovanni Pierluigi da Palestrina sei so stilbildend, dass er im 19. Jahrhundert immer noch gerne kopiert wurde. Archangelo Corelli war ein Star seiner Zeit. «Er benutze als Violinist einen längeren Bogen als andere und konnte deshalb ein besonders kantables Spiel pflegen.» Händel habe insbesondere im Bereich der Oper eine einzigartige Stellung eingenommen. Und: «Johann Sebastian Bach ist einer der grössten Komponisten, den wir bis heute haben.»
Bei der Vorstellung von Bachs Fuge in C-Moll gerät Metzger regelrecht ins Schwärmen. «Allein in den ersten sechs Takten gibt es vier Themen-Einsätze. Das ist eine sehr dichte Fuge – ein Meisterstück!» Insgesamt sei 22-mal das Motiv zu hören. Naturgemäss wäre Verschwendung sich während des Konzerts aufs Mitzählen zu konzentrieren. Das weiss auch der Experte. «Ich betone das, weil sich hier eine grosse Herausforderung für die Interpreten ergibt: Alle Themen müssen herausgeschält werden.»
Andere Herausforderungen gibt es bei einer Suite wie Respighis Nummer 3 «Antiche Danze et Arie». Hier ist Vielseitigkeit gefragt. Valentin Metzger sieht den Bezug zur Architektur: «Dort hat jedes Zimmer eine eigene Funktion. Bei der musikalischen Suite ist es genauso. Und die Überleitungen zwischen den Teilen entsprechen in etwa dem Korridor.»
Neue Hörerlebnisse fürs Publikum
Für das Publikum stellte die Konzertform ein interessantes Experiment dar: Hört man Respighi anders, wenn man weiss, dass er in Russland bei Rimski-Korsakow gelernt hat? Dass er möglicherweise den italienischen Faschisten nahestand? Vielleicht sollte man die Musik einfach nur geniessen, den Kopf ausschalten und im Wohlklang baden.
Doch bei den meisten Zuhörern und Zuhörerinnen kam das Konzept an. «Es war gut für Leute wie mich, die überhaupt keinen Schimmer haben», meint die Eine. «Ich wusste fast schon alles», so die Andere, «also war es für mich etwas zu ausführlich. Aber der klare Ton der Musik, der hat mich berührt.»
Orchester wagt immer etwas Neues
Orchester-Präsidentin Eva Hofacker freut sich über ein treues Stammpublikum, das immer zu den Konzerten kommt. «Ich sehe viele bekannte Gesichter im Publikum», sagt sie. Doch auch Fans wollen positiv überrascht werden. Wiederholungen sind nicht nur bei Corelli verpönt. Variationen sind gefragt. «Es soll für unser Publikum jeweils etwas Besonders geben», erklärt Orchesterleiter Oleksandr Chugai.
Dieses Mal waren es die Erläuterung und Demonstrationen, beim nächsten Mal im Frühjahr wird es «etwas Grosses». Das Orchester Divertimento will sich mit dem Musikverein Tägerwilen und dem Campus Orchestra aus PMS und PHTG zu einem Sinfonieorchester mit über hundert Musikerinnen und Musikern vereinen. Die Termine am 29. und 30. März kann man sich bereits in der Agenda notieren.
Von Inka Grabowsky
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