von Barbara Camenzind, 15.09.2025
Symphonisches Geburtstagsfest

Das 60-Jahr-Jubiläum mit grossartiger Musik feiern – das hatte sich das Jugendorchester Thurgau (JOTG) unter der Leitung von Gabriel Estarellas Pascual vorgenommen. Hat geklappt, findet unsere Autorin. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es war, als hätte Ludwig van Beethoven zum Tanztee eingeladen und schon fest in die Zukunft zu Johann Strauss geblickt. So prachtvoll, launig und auffordernd erklangen die ersten Takte seiner 8. Symphonie op. 93 beim Konzert des Thurgauer Jugendorchesters – im Dreivierteltakt und mit ganz viel «Brio», dem unnachahmlichen Schwung des «Wahlwieners» aus der Zeit des «Sturm und Drangs».
Dirigent Gabriel Estarellas Pascual und sein Team, zu dem auch Bläserspezialist Michael Reid gehört, hatten das grosse Orchester (64 Personen zählte das Programmheft) bestens in Form gebracht. Die Jungtalente klangen hervorragend aufeinander abgestimmt und meisterten auch Beethovens trotzige Durchführungen ohne Wackler und Ausreisser. Gerade die koketten Streicherstaccati im zweiten Satz gelangen besonders schön und intonationssicher.
Die Uhr tickt – doch selbst nach 60 Jahren klang das Jugendorchester Thurgau zeitlos frisch und motiviert. Der Altersunterschied der Musizierenden war gross: von elf Jahren am Cello bis zum erwachsenen Zuzüger an der Pauke. Der Dirigent liess sich von Beethovens Furor nicht hetzen und gestaltete die Tempi mit reduzierter Gebärde so, dass die Musik atmen konnte.
Vom Nischenkonzept zur grossen Form
Als Martin Sigrist 1965 das Jugendorchester Oberthurgau gründete und bis 2008 leitete, war es ein reines Streichorchester. Sigrist, in der zeitgenössischen Szene der Ostschweiz wohlbekannt, hatte seinen ganz eigenen Stil und pflegte musikalische Nischen, die er besonders gut vermitteln konnte. Er war einer der Vertreter der musikalischen Avantgarde – und das hatte seinen Platz und seine Zeit.
Das Jugendorchester Thurgau, wie es nach seinem Rücktritt hiess, hat seither den Generationenwechsel ebenso wie die Transformation geschafft. Das ist nicht selbstverständlich; oft gehen solche Projekte ein, weil sie stark personenbezogen sind. Gabriel Estarellas Pascual und sein Team bauten das Orchester zu symphonischer Grösse aus. Weniger Avantgarde, dafür eine Talentschmiede für grosse Formen: Dvořák, Mendelssohn, Bizet, der Crossover zur Bigbandmusik und zum Jazz.
Das Orchester als Lebensschule
Die Kritik – «etwas viel Bombast für so junge Leute», «können die das?», «der braucht aber viele Zuzüger» – wurde durchaus geäussert. Im Gespräch mit dem künstlerischen Leiter wird klar, was dahintersteckt: Estarellas ist es wichtig, grosse Werke aufzuführen, um jungen Talenten die Chance zu geben, symphonische Orchestermusik zu spielen. Gerade für Streicher gibt es hier in der Ostschweiz nicht viele Angebote dieser Grösse, und für Bläser ist es eine Gelegenheit, Literatur jenseits der Blasmusik zu erarbeiten.
Ob jemand bereits Musik studiert, dies anstrebt oder einfach ein Amateur im wahrsten Sinn des Wortes bleibt: Ein Symphonieorchester ist eine Lebensschule – Üben, Durchbeissen, Zuhören, Zählen, Anpassen, Konzentrieren, Atmen –, um dann gemeinsam Wunderbares zum Klingen zu bringen. Und es ist ein Angebot zum musikalischen Miteinander in der Euregio Bodensee, mit Fokus auf den Thurgau.
Brahms als Jahresgast
Johannes Brahms’ 3. Symphonie op. 90 ist ein ganz besonderes Universum – und ein sehr weites. Der lange erste und der vierte Satz sind schon zwei Missionen für sich, während der zweite und der dritte wie Stippvisiten auf Planeten mit viel Licht und Schatten wirken. Brahms scheint sich 2025 häuslich eingerichtet zu haben im grünen Kanton. So viel Musik des «Meisters der absoluten Form», der nichts von tönenden Bildlegenden hielt, war im Thurgau in den letzten Jahren selten zu hören.
Langweilig wird er nie, vor allem wenn man sich so mutig und mit viel Stehvermögen durch dieses grosse Werk arbeitet, wie es das Jugendorchester Thurgau an seinem Jubiläum tat. Besonders gut gefielen hier die Bläser im ersten Satz, die jene «Vorhangmotive» zu spielen hatten, die immer wieder auf die Reise zu eigenen Klangbildern einluden. Im zweiten Satz bestachen die Streicher mit bezaubernden Melodien, die Celli glänzten feinschwarz im dritten. Zum Schluss nahm Johannes alle mit auf eine lange Reise, mit vielen Triolen im Gepäck und einigen heiklen Übergängen.
Was noch nicht perfekt gelang, darf wachsen. Das Saitengewitter der tiefen Streicher im Finale verlor sich in ein Flüstern – und in gespannte Stille bei Gross und Klein. Der Applaus war wohlverdient. Alles Gute zum Jubiläum, JOTG!

Weitere Beiträge von Barbara Camenzind
- Thurgau, dein Kammermusik-Universum (20.10.2025)
- Gesang der Zeitenwende (01.10.2025)
- Im Auge des Jazz (22.09.2025)
- Der Sound der Gleichheit (16.09.2025)
- Ostinato-Festival mit frischen Klängen (19.06.2025)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Klassik
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Thurgau, dein Kammermusik-Universum
Die Kammermusikformate „Klassik im Schloss“ und „Ittinger Sonntagskonzerte“ starten ihre Saison am 26. Oktober. Eine Übersicht, was beide Programme auszeichnet. mehr
Die lyrische Urgewalt des Punkrock
Wütend, roh und lyrisch: Verbrennung 3. Grades macht Punkrock zur spirituellen Abrissbirne und ruft Hildegard von Bingen zur unerwarteten Ikone aus. mehr
Gesang der Zeitenwende
Ein klug konzipiertes Konzertprogramm, edle Töne und dazu die passende Stimmung: Der Oratorienchor Kreuzlingen und Gäste begeisterten das Publikum mit Mozart, Bruckner und Mendelssohn. mehr

