22.11.2020
Die feinen Unterschiede
Debütreihe im November: Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli denkt nach über Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“. (Lesedauer: ca. 7 Minuten)
„Ich glaubte, ein psychologisches Ich konstruieren, den Raum ins Gleichgewicht bringen, Empfindungen lokalisieren zu müssen, und nun verlangte man von mir eine zusätzliche Leistung,“ schreibt der Theoretiker und politische Aktivist Franz Fanon in seinem Klassiker der politischen Philosophie „Schwarze Haut, weisse Masken“ aus dem Jahre 1952.
Die „zusätzliche Leistung“ von der er mit Blick auf die eigene Bildungsbiografie spricht: Er durfte als Schüler und Student nicht einfach durch Bildung zu sich finden, sondern war gezwungen, sich in erster Linie als Schwarzer zu sehen. Daraufhin mass er sich ab: „mit objektivem Blick, entdeckte [er seine] Schwärze, [seine] ethnischen Merkmale“.
Wer das vom ihm verlangte? Seine weissen Lehrer und Professoren. „An jenem Tag, da ich desorientiert war, ausserstande, mit dem anderen, dem Weissen draussen zu sein, der mich unbarmherzig einsperrte, begab ich mich weit, sehr weit fort von meinem Dasein und konstituierte mich als Objekt.“ Mit weitreichenden Folgen: wie Selbstentfremdung und Identitätsverlust.
Ein Vater, der zunehmend dem Alkohol verfällt
Vergleichbares beschreibt siebzig Jahre später die weisse Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes vielfach prämiertem Debütroman Streulicht, der zwischen den 90er und 2000er Jahre irgendwo im deutschen Arbeiter- und Industriemilieu spielt und eine Art Aufstiegsgeschichte erzählt. Die Ich-Erzählerin ist Kind einer türkischstämmigen Mutter, die stets im Hintergrund bleibt, fast unsichtbar wirkt, und eines deutschen Vaters, der zunehmend dem Alkohol verfällt und messihaft billige Schnäppchen hortet.
Sie selbst wird eine Bildungsgeschichte durchlaufen, die von der Hauptschule zur Mittleren Reife, dann weiter zum Abitur und schliesslich zum Studium führt – und dennoch keine Identität für sich herausbilden können. Bis ans Ende des Romans wird sie sich nicht als Akademikerin bezeichnen.
Zu viele Abwertungserfahrungen in den Bildungseinrichtungen
Zu viel „Abwertungen“ habe die Figur innerhalb der Bildungsinstitutionen erfahren – erläutert Deniz Ohde in einem Interview anlässlich der Verleihung des Aspekte-Literaturpreises. „Abwertungen“ aufgrund ihrer sozialen und ihrer kulturellen Herkunft.
Und tatsächlich spielen Bildungsbiografie, die Stellung und Herkunft der Eltern in Streulicht die alles entscheidende Rolle, stehen in engem Zusammenhang mit dem, was Fanon als „zusätzliche Leistungen“ beschreibt.
Worum es im Roman geht
Die Rahmenhandlung von Streulicht erzählt, wie die namenlose Ich-Erzählerin als Studentin zur Hochzeit ihrer engsten Freunde Pikka und Sophia reist, ihren Heimatort und den Vater besucht. Die Mutter ist bereits an Krebs gestorben. Der Roman setzt ein mit der Ankunft am Ort der Herkunft. Dort, wo in der Luft eine „feine Säure liegt“ – im Unterschied zu anderswo. Und auch ihr Gesichtsausdruck verändert sich, wird steinern. Ganz so wie es ihr der Vater beigebracht hat, um nicht aufzufallen. „Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.“
Mit einer Schwellenbeschreibung endet auch der Roman, wenn sie früher als geplant, die Hochzeitsgesellschaft und den Vater verlässt. Dazwischen vollzieht sich ein Erinnerungsreigen, der sich von der Kindheit bis zur Studienzeit erstreckt. Wir lernen die beiden Freunde Pikka und Sophie kennen. Erleben wie die drei im Grundschulalter gemeinsam die Umgebung erkunden, den Silberfarn und die Stadt – zwischen Industriepark und Gartenlauben.
Im Keller gemeinsam Black Sabbath hören
Jahre später werden sie im Keller von Pikkas Eltern sitzen und Black Sabbath hören, bevor die beiden Freunde, Sophia und Pikka, gegen Ende des Romans zusammen in die elterliche Dachgeschosswohnung ziehen – er kurz vor dem Studienabschluss, sie am Ende der Ausbildung. Alles wie programmiert, erwartbar. Nur der Bildungsweg der Ich-Erzählerin verläuft komplizierter.
Nach der neunten Klasse muss sie das Gymnasium verlassen. Mit Hauptschulabschluss. Zu mehr reichen die Leistungen nicht. Ein Jahr lang tut sie nichts. Schliesst dann an einer Abendschule die mittlere Reife ab, wo sie eine Lehrerin animiert, das Abitur zu machen, welches sie schliesslich mit Anfang 20 als Jahrgangsbeste erlangt und ein geisteswissenschaftliches Studium beginnt.
Was die Freunde voneinander unterscheidet
Ein Bildungs-um-weg, aber nicht nur. Da gibt es noch Grundsätzlicheres, was sie in ihren Augen von den beiden Freunden trennt. Da existiert „eine tiefsitzende Verunsicherung, die weiter [geht] als bei allen anderen Mädchen“. Sie hat damit zu tun, dass sie keinen „Namen hatte, der in einem Lesebuch oder auf einem Schulranzen stand“. Und tatsächlich wird sie für uns Leserinnen und Leser immer namenlos bleiben.
Alles, was wir wissen, ist, dass Sie einen öffentlichen und einen geheimen Namen hat. Einen geheimen Namen, der nur zu Hause ausgesprochen wird und mit kurzen i. Deniz vielleicht? Ein kurzes und ein langes i, wie im Türkischen oder im Deutschen? Ein kleiner Unterschied, ein feiner. Tatsächlich spielen die feinen Unterschiede in Ohdes Roman eine grosse Rolle.
Sophias und Pikkas Eltern sind Unternehmer, Akademiker – gehören zur oberen Mittelschicht. Ganz anders als die eigene Familie. Da gibt es Differenzen zu beobachten, die die Ich-Erzählerin mit einem stets nach aussen gerichteten Blick detailliert und präzise beschreibt: wie Sophias Mutter einen Obstteller zum Naschen bereitet, wie es Zeitungen nicht Fernsehzeitschriften in den Häusern der Freunde gibt oder wie jemand schaut: „Mein Vater schaute mit grossen Augen zu, um besonders aufmerksam zu wirken, so wie ich früher neben Sophia bei den Versammlungen des Reitvereins gestanden habe und die Augen aufgerissen hatte, und sein Gesicht wurde zu dem eines Kindes.“
Reinhören 1: Özkan Ezli über Hauptfigur & Erzählperspektive
Zu Hause fühlt sie sich allein
Als sie sich als Schülerin ein ZEIT-Abonnement bestellt, sagt ihr der Vater, dass sie es unmöglich schaffen könne, diese Zeitung in nur einer Woche zu lesen. Sie lässt es dann auch. Wie sollte das alles auch gelingen, räsoniert sie. Zu Hause war sie „allein auf einer Insel, an die unablässig Zigarettenrauch, Unrat und stumme Trauer anbrandeten“.
All diese bildungsbeflissenen Praktiken, sie fehlen ihr. Und doch führt sie ihre Unwissenheit, die Unkenntnis, nicht nur auf die Arbeiterschicksale ihres Grossvaters und Vaters zurück, sondern bindet sie ebenfalls an die kulturelle Herkunft der Mutter.
Der nicht verschwindende kulturelle Marker
Auch wenn sie selbst kein Türkisch sprechen kann, ihre Mutter Schweinefleisch isst und ausser dem orientalischen Teppichvorleger kaum etwas in diesem Roman auf das Türkische verweist, spielt der kulturelle Marker eine wichtige Rolle.
Beispielsweise als die Ich-Erzählerin im Pausenhof der Grundschule gestossen wird und dabei das „Wort mit K“ hört. (Vielleicht Kümmeltürkin?) Die Mutter klärt sie darüber auf, dass dies ein Schimpfwort sei und sie unmöglich gemeint sein könne, da sie eine Deutsche sei.
Später werden Lehrerinnen, Rektoren und Mitarbeiter des Arbeitsamtes fragen, warum sie vom Gymnasium abgehen musste und weshalb sie schliesslich so gut in der Schule habe werden können. Ihre knappen Erklärungen, sie habe zu Hause viel ferngesehen, nicht gelesen, ihr gutes Englisch auf MTV gelernt – diese Antworten genügen den Fragenden nicht.
Reinhören 2: Stärke und Schwäche des Romans
Verzweifelte Suche nach dem tieferen Grund für das Scheitern
Es muss einen tieferen Grund für das Scheitern und das Gelingen geben – einen kulturellen oder sozialen. „›Hauptschule‹, Realschule, Gymnasium‹-, brauchte jetzt eine Erklärung, die tiefer lag. ‚Aber warum?‘, fragte sie nochmal, nachdrücklicher und etwas verzweifelt. ‚Sie wirken doch ganz intelligent auf mich!‘“
Es ist diese zusätzliche Leistung, die von ihr verlangt wird und die sie zum Objekt gemacht hat, einem Objekt der Differenz. In der Schule, auf der Universität oder beim Arbeitsamt. Auch ihre Freunde sind davon nicht ausgenommen.
Sie wird ihre Herkunft nicht los
Im Unterschied zu Sophias Mutter und deren Welt sei sie selbst keine Schaumgeborene, sondern einen „Russgeborene“. „…geboren aus dem Kochsalz in der Luft […]. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage“. Sie scheint ein Produkt ihrer sozialen und materiellen Umgebung. Aus diesem Grunde ist es für sie – wie für Fanon – schlicht nicht möglich, ein „psychologisches Ich“ aufzubauen, den öffentlichen Raum in ein Gleichgewicht zu bringen, weil sie stets etwas Zusätzliches erklären muss.
Und ähnlich wie Fanon fühlt sie sich draussen, neben den anderen, die so selbstverständlich leben und alle Orte zu ihren eigenen machen, „unbarmherzig eingesperrt“. „Pikka lief ungerührt an allem vorbei, weil er wusste, dass er abends zurückkehren würde in den Ort, dessen saure Luft ihm vertraut war. Ich hingegen fühlte mich durch alles seltsam berührt. Alles ging mich an, reichte so weit zu mir herüber, dass es mich verdrängte […] die Dinge schoben mich an den Rand.“
Reinhören 3: Wir sehen mit ihr, aber nicht sie
Schuld schon, aber keine Schuldigen
Dass die Abwertenden nicht einfach zu den Schuldigen werden, die Täter sind, ist der überaus präzisen, situations- und ortsgebundenen Beschreibungsprosa von Deniz Ohde geschuldet. Ihr gelingt es, die feinen Mechanismen sozialer Ungleichheit in einer von kultureller Diversität geprägten Gesellschaft aufzuzeigen, ohne einen Schuldigen eindeutig zu benennen.
Und dennoch gibt es eine Schuld. Auf welchen Grundlagen sie baut, dafür sensibilisiert Deniz Ohdes Roman Streulicht. In jedem Fall sind „zusätzliche Leistungen“ ein Teil des Problems und keineswegs die Lösung. Sie weisen die Schuld den Betroffenen selbst zu und halten sie aufrecht, die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten.
Reinhören 4: Lesen oder nicht lesen?
Deniz Ohde
Die Autorin: Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie auch lebt. 2016 war sie Finalistin des 24. open mike und des 10. poet bewegt Literaturwettbewerbs, 2017 Stipendiatin des 21. Klagenfurter Literaturkurses. 2019 stand sie auf der Shortlist für den Wortmeldungen-Förderpreis. Für ihren Debütroman Streulicht wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2020 ausgezeichnet.
Das Buch: Deniz Ohde. Streulicht. Suhrkamp Verlag. Gebunden, 284 Seiten. ISBN: 978-3-518-42963-1
Der Autor der Besprechung
PD Dr. Özkan Ezli ist ein Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er widmet sich kulturtheoretischen und -praktischen Studien, mit einem transkulturellen und mobilitätsbezogenen Schwerpunkt auf Basis von Literatur-, Film-, Sozial-, Debatten- und Theorieanalysen sowie materieller Kultur. Zuletzt wurde seine Habilitationsschrift „Narrative der Migration und Integration in Literatur und Film. Eine andere deutsche Kulturgeschichte“ mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2020 ausgezeichnet.
Die Lesungen & die Serie
„Debüts: Der erste Roman“ heisst eine Lesereihe von Judith Zwick, die im Laufe des November stattfindet. thurgaukultur.ch ist Kooperationspartner der Reihe. Coronabedingt finden alle Lesungen und Gespräche nun digital statt. Sie sind zu den angegebenen Terminen auf unserer Internetseite zu finden.
Die Lesungen:
Donnerstag, 12. November:
Ulrike Almut Sandig „Monster wie wir“.
Ein Briefwechsel und digitales Gespräch zwischen der Autorin und Judith Zwick
Donnerstag, 19. November:
Julia Langkau „Flussgeboren“.
Livestream-Lesung mit Gespräch. Moderation: Michael Lünstroth, Redaktionsleiter thurgaukultur.ch, Live über YouTube- und Facebook-Seite von thurgaukultur.ch
Donnerstag, 26. November:
Thilo Krause „Elbwärts“.
Ein Interview und eine digitale Lesung.
Weitere Details zu den Lesungen gibt es auch hier:
https://judithzwick.de/debuets/
Das Projekt wird gefördert vom Literaturhaus Thurgau, Kulturamt Konstanz, dem Fonds Neustart Kultur und der Buchhandlung Homburger & Hepp.
Die Serie:
Zur Lesereihe erscheint bei uns im November, immer sonntags, auch eine Artikelserie rund um das Thema „Debüts“, in der wir weitere lesenswerte Debütromane vorstellen. Alle Beiträge aus der Reihe bündeln wir im Themendossier «Debüts».
«Das erste Mal»: Ein Text zur Bedeutung von Debüts von Michael Lünstroth
Sonntag, 8. November:
Die Journalistin Bettina Schnerr bespricht das »Buch der geträumten Inseln« von Lukas Maisel. (Rowohlt Verlag. Hamburg/Berlin 2020)
Sonntag, 15. November:
Die Buchhändlerin Marianne Sax präsentiert »Siebenmeilenstiefel« von Simon Deckert (Rotpunktverlag 2020) und »Drei Leben lang« von Felicitas Korn (Kampa Verlag 2020).
Sonntag, 22. November:
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli denkt nach über »Streulicht« von Deniz Ohde (Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2020)
Sonntag, 29. November:
Die Autorin Tabea Steiner schreibt über »Roter Affe« _von Kaśka Bryla (Residenz Verlag. Wien/Salzburg 2020)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Literatur
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Belletristik
Ist Teil dieser Dossiers
Kulturplatz-Einträge
Kultur-Dienstleistungen, Kulturschaffende, Veranstaltende
Judith Zwick・Literatur - Theater - Wissenschaft
78464 Konstanz
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