von Piera Cadruvi, 22.04.2024
Der zähe Kampf ums Frauenstimmrecht im Thurgau
Ein Buch, neun Autorinnen und 53 Jahre Frauenstimmrecht: «Frauen stimmen – Frauenstimmen» beleuchtet den Weg zum Frauenstimmrecht im Thurgau. Und es zeigt auf, was danach kam: die unterschiedlichen Wege der Thurgauer Politikerinnen. Wir haben die Herausgeberin Nathalie Kolb getroffen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Hoffentlich könnten sie auch den letzten Thurgauer mit dem Apfel als Symbol des Thurgaus von der «guten Sache» überzeugen. Die «gute Sache» ist in diesem Fall das Frauenstimmrecht, das im Thurgau am 12. Dezember 1971 angenommen wurde. Gesagt hat das Verena Zollinger-Wieland, die während des Abstimmungskampfes Präsidentin des Bundes Thurgauischer Frauenvereine war. Mit dem Bild eines Apfels und dem Slogan «Ja für Eva» wurde damals für die kantonale Vorlage geworben.
Im Apfel war der Wurm drin
Das Frauenstimmrecht und der Thurgau - das war eine harzige Angelegenheit. Nachlesen kann man das in «Frauen stimmen – Frauenstimmen», ein Buch, das 50 Jahre politische Partizipation der Frauen im Thurgau beleuchtet. Herausgegeben wurde es von Nathalie Kolb und dem Historischen Verein Thurgau.
Als sie mit diesem Buchprojekt begonnen habe, habe sie gedacht «ach, das ist doch langweilig», erzählt die Historikerin. Gestartet hat sie mit dem Buch im Frühling 2021, erschienen ist es im Dezember 2023. «Der Thurgau hat am 7. Februar 1971 Nein gestimmt zum Frauenstimmrecht und bietet daher kaum etwas Interessantes zum Thema», habe sie zu Beginn gedacht.
Dann ist sie aber tiefer in die Recherche eingetaucht und hat viel Spannendes gelernt. «Besonders interessant fand ich den Stimmungswandel zwischen den beiden Abstimmungen 1959 und 1971. Der Gegenwind in den 1950er-Jahren war enorm. Auf dem Land hatte man Angst, dass mit dem Frauenstimmrecht die Stadt und damit linke Themen zu stark würden. Und in der Stadt hatte man Angst, dass mit dem Frauenstimmrecht das Land und damit konservative Themen zu stark würden», erklärt die Historikerin.
Wie die Nein-Allianz bröckelte
1959 hat die Schweiz erstmals über das Frauenstimmrecht abgestimmt. «Im Thurgau bildeten vor der ersten eidgenössischen Abstimmung 1959 die bäuerlichen Kreise sowie meinungsbildende Persönlichkeiten aus katholisch-konservativem Milieu eine breite Nein-Allianz», so Kolb.
Am 7. Februar 1971 haben die Thurgauer das Frauenstimmrecht zwar abgelehnt, «aber danach ging es im Thurgau doch sehr schnell, nachdem der Grossteil der Schweiz es angenommen hatte». Im April 1971 hatte CVP-Kantonsrat Benedikt Beer im Grossen Rat eine Motion zur Einführung des kantonalen und kommunalen Frauenstimmrechts eingereicht, über die am 12. Dezember 1971 abgestimmt wurde. Das Resultat war eindeutig: 16’000 Thurgauer haben Ja gestimmt, 9542 Nein. «Der Pragmatismus hatte gesiegt», schreibt Nathalie Kolb in der Einleitung des Buches.
Viele Frauenstimmen in neun Kapiteln
Zu diesem Ja führten schlussendlich viele kleine Schritte und vor allem viele Frauen, die sich für das Frauenstimmrecht eingesetzt haben. Das zeigen die insgesamt neun Kapitel in «Frauen stimmen – Frauenstimmen» schön auf. Beleuchtet werden in den Kapiteln etwa der Thurgauer Frauenstimmrechtsverein und der Bund Thurgauischer Frauenvereine (heute Frauenzentrale Thurgau), die beim Kampf ums Frauenstimmrecht eine zentrale Rolle gespielt haben. Aber auch die verschiedenen Wege von Thurgauer Politikerinnen, wie jener der ersten Thurgauer Kantonsrätin Martina Hälg-Stamm.
Eine Frau, die Nathalie Kolb besonders fasziniert hat. «Das hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass ich ihren Nachlass bearbeitet und mich darum viel mit ihr auseinandergesetzt habe.» Martina Hälg-Stamm habe vieles richtig gemacht: «Sie hatte klare Meinungen, beherrschte politische Prozesse und hat viele wichtige Themen eingebracht.»
Geschrieben hat das Kapitel über Martina Hälg-Stamm die Thurgauer Nationalrätin Nina Schläfli. Unter anderem erwähnt sie im Buch ihre Leserbriefe – Martina Hälg-Stamm sei eine «begnadete und ausdauernde Leserbriefschreiberin» gewesen. «Wir müssen Geduld haben mit unseren Thurgauer Männern. Sie gehen nicht schneller, als die Musik spielt», schrieb Martina Hälg-Stamm einst.
Die Politik ist ein Männerraum
Geduldig sein musste man auch nach der Abstimmung 1971: «Es ging extrem langsam vorwärts. Erst 1996 wurde Vreni Schawalder als erste Frau in den Regierungsrat gewählt - das sind 25 Jahre! Die Frauen damals müssen sich teilweise ohnmächtig gefühlt haben.» Die Parteien haben damals Kandidatinnen gesucht, Frauen gefördert – aber das Stimmvolk hat die Politikerinnen nicht gewählt.
«Der Grund war wohl, dass Männer und Frauen, vor allem aus rechten Parteien, nur Männer gewählt haben. Schon immer wurden in linken Parteien mehr Frauen gewählt, bis heute», erklärt Kolb und verweist auf Elisabeth Bommeli-Reutlinger: «Dreimal hat sie für die SVP für den Nationalrat kandidiert auf Listenplatz 2 – und nie wurde sie gewählt.»
«Denn die Politik war ein Männerraum, in den Frauen sich hineinbewegen mussten.» Mit der Annahme des Frauenstimmrechts mussten Männer Privilegien abgeben. «Darum hatten sie im Vorfeld der Abstimmung auch viele Ausreden wie etwa ‘Politik ist schlecht, wir wollen die Frauen davor beschützen’.»
Und heute? Gibt’s immer noch Hürden
Und wie haben sich die Frauen in den Männerraum hinein bewegt? «Frauen sind heute immer noch in einer deutlichen Minderheit, aber es ist selbstverständlich, dass sie da sind», sagt Nathalie Kolb, die als Protokollführerin im Grossen Rat einen ganz genauen Blick auf die Geschehnisse im Parlament hat. Ein Parlament, das übrigens einen Frauenanteil von rund 30 Prozent hat nach den Grossratswahlen 2024. Das ist gleich viel wie vor vier Jahren, wobei der Frauenanteil bei den Kandidierenden etwas zugenommen hat.
Dass Frauen es schwieriger haben und mehr Hürden in den Weg gestellt bekommen, erläutert die Politologin Sarah Bütikofer im Kapitel «Thurgauer Politikerinnen - präsent in allen Parteien und Gremien». Aber auch wenn die Wege schwieriger waren und es damals lange dauerte, liegt der Frauenanteil in der Thurgauer Regierung mit 40 Prozent deutlich über dem Schweizer Durchschnitt. Dieser lag 2023 bei 28 Prozent. Im Grossen Rat hingegen liegt der
Stolz auf wen?
Nach der Annahme des eidgenössischen Frauenstimmrechts am 7. Februar 1971 schrieb Verena Zollinger-Wieland: «Die Thurgauerinnen haben keinen Grund, stolz zu sein, aber dafür sind sie glücklich - das Frauenstimmrecht ist für sie ein wirkliches Geschenk.»
Stolz auf die Männer waren sie damals nicht. Aber hoffentlich auf sich selbst und alle Frauen, die für ihre Rechte gekämpft haben und nicht aufgegeben haben. Die eingefordert haben, was ihnen zusteht. Und die mit ihrer Stimme nicht nur für sich, sondern auch für andere eingestanden sind.
«Frauen stimmen – Frauenstimmen» zeigt auf, dass wir stolz sein können auf viele Frauen und einzelne Männer. Es zeigt auf, dass wir stärker sind, wenn wir uns zusammen für etwas einsetzen. Und vor allem würdigt es die wichtige Arbeit vieler Frauen und zeigt auf, was sie bewirkt haben.
Buch bestellen und kaufen
Das Buch kann in allen Buchhandlungen im Thurgau erworben oder direkt beim Historischen Verein Thurgau bestellt werden.
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