von Piera Cadruvi, 12.12.2023
«Wenn ich nicht weiter weiss, schreibe ich»
Ihre Werke faszinieren und machen sprachlos: Die Thurgauer Künstlerin Lina Maria Sommer stellt aktuell in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon aus. Wir haben sie getroffen und mit ihr über ihren Weg, die Liebe zur Sprache und ihre Wünsche gesprochen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Lina Maria Sommer steht in ihrem Atelier vor einem grossen, weissen Blatt Papier. In der Hand hält sie einen Pinsel. Und dann ist da dieser Moment. Der Moment vor der Hingabe. Bevor sie loslässt. «Es fühlt sich jeweils an wie ein Reinspringen.» Sich diesem Moment hinzugeben, brauche jedes Mal viel Mut. «Bei Aquarellmalereien habe ich nur einen Versuch.»
Dann setzt sie ihren Pinsel an. Und schwimmt. «Das Malen ist für mich etwas sehr Körperliches – wie Schwimmen oder Tanzen.» Durch feine Berührungen hinterlässt sie mit ihren Pinseln Spuren auf dem grossen, weissen Blatt Papier und lässt das Werk entstehen.
Der Galerist will keine Schublade aufmachen
Einige dieser grossformatigen Aquarellmalereien hängen noch bis am Samstag, 16. Dezember, in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon. Neben ihnen sind Zeichnungen ausgestellt – 2 x 21 um genau zu sein. Diese Zeichnungen bilden den Kern der Ausstellung «Etappe 21». Während bei den Malereien diese tanzenden und fliessenden Bewegungen sichtbar sind, sind die Zeichnungen zarter, intimer und kleinteiliger.
«Die Zeichnungen haben etwas Faszinierendes und Geheimnisvolles», sagt der Galerist Adrian Bleisch. Er fände es aber schwierig, Lina Maria Sommers Werk mit Worten zu beschreiben. «Kräftig-experimentell bis zart-fein überlegt.» Der Galerist hält kurz inne. «Nein, eigentlich möchte ich Linas Werk nicht in eine Schublade packen. Ihre Arbeiten berühren, lösen eine innere Faszination aus und machen mich sprachlos. Und diese Sprachlosigkeit ist gerade das Schöne daran.»
Die Macht der Sprache
Nicht aktiver Teil der Ausstellung, aber immer Teil von Lina Maria Sommers Wirken ist das Schreiben. «Geschriebenes kann beschützen und führen», sagt die Künstlerin. Und insgeheim sei das Schreiben etwas wichtiger für sie: «Wenn ich nicht mehr weiter weiss, dann schreibe ich.»
Die Macht der Sprache fasziniert Sommer. Sie habe schon oft die Wahrheit in der Sprache gesucht und teils gefunden. «Sie gibt mir Orientierung, wird jedoch selbst auch immer wieder zur Frage, zum Rätsel und stellt mir Aufgaben.»
Während das Malen für die Künstlerin etwas Körperliches ist, fühlt sich das Schreiben eher wie ein Herausmeisseln an. «Es ist ein längerer Prozess und dauert, bis das Geschriebene sich als überzeugend erweist. Ich frage mich jeweils: Wie ist die Substanz? Bleibt sie über die Zeit erhalten? Ist das Geschriebene wahr?»
Ausschlaggebend für das Bestehen dieser Prüfung ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Melodie: «Die lyrische Auseinandersetzung ist getragen von Klang, der beim Rezipient etwas auslösen kann, selbst ohne den Text zu verstehen. Meine Gedichte können wie ein umhüllendes Mantra sein, das Geborgenheit anbietet.»
Das Zeichnen war immer da
Lina Maria Sommer ist in Weiern aufgewachsen und lebt mittlerweile wieder dort. «Ich bin als Kind angeeckt und habe mich gefragt, wo die Welt ist», sagt sie. Sie habe schon früh Geschichten erzählen wollen und mit Pflanzen geredet. Das Zeichnen war zwar immer da, «es war so einfach, unmittelbar und direkt».
Aber ihre kindliche Berufsvorstellung hat etwas anders ausgesehen: «Ich hatte das Bild von mir, wie ich mit einem Körbchen durch den Wald laufe und Kräuter sammle.» Darum schien auch die Lehre zur Drogistin naheliegend. Trotzdem hat es die Künstlerin nie ganz erfüllt. «Ich konnte mich in dem Beruf nicht weiterentwickeln.»
Das Malen und Schreiben wurde in ihrer Jugend immer präsenter. Und damit auch der Drang, sich mehr Raum dafür zu nehmen – oder wie Lina Maria Sommer es ausdrückt: «Die jugendliche Frustration darüber, in einer Welt, die viel zu klein ist, gefangen zu sein, wurde unerträglich und die Sehnsucht nach einer anderen Welt, von der ich bloss ahnte und ständig träumte, schlussendlich stärker als alle Ungewissheit und Konvention.»
Wie ein Unfall ihr Leben veränderte
Nach einem Velounfall mit Schädelbruch war für Lina Maria Sommer klar, dass sich etwas ändern muss. «Trotzdem hat es sehr viel Mut gebraucht, mich auf den Weg zu machen.» Nach dem Lehrabschluss hat sie die gestalterische Berufsmaturitätsschule absolviert und an der Hochschule der Künste in Bern Fine Arts studiert. «Endlich hatte ich Raum, um künstlerisch zu arbeiten.»
Nach dem Bachelor-Abschluss 2019 hat sie sich dann noch mehr Raum genommen und drei Jahre lang nur Kunst gemacht. 2020 hat sie an der Jungkunst in Winterthur sowie in der Mélange in Köln ausgestellt und 2021 zum ersten Mal in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon. 2022 hat sie ihr Master-Studium an der Zürcher Hochschule der Künste abgebrochen, um das Atelierstipendium in Belgrad wahrnehmen zu können.
Neue Herausforderung im Künstlerinnenleben – das Muttersein
Seit einem halben Jahr ist Lina Maria Sommer Mutter. Das hat viel mit ihr gemacht: «Mit neuen Pflichten verschieben sich die Prioritäten – das Muttersein ist aber auch eine grosse Bereicherung und Inspiration.» Ein künstlerischer Prozess geschieht aber immer. «Aktuell liegt der Fokus auf kleineren Arbeiten. Bei den grossformatigen Aquarellmalereien war ich irgendwann einfach nicht mehr zufrieden.»
Aquarell ist eine Meisterdisziplin, an die sich die Künstlerin immer wieder aufs Neue heranwagen muss. «Es geht darum, der Arbeit gerecht zu werden und durch den Dialog mit ihr zu lernen, was sie braucht. Man darf ihr erlauben, dass sich ihre Prozesse verändern.» Das Leben sei ein Reifungsprozess.
Ob denn jetzt schon etwas in ihr reife; Wünsche für die Zukunft vielleicht? Lina Maria Sommer überlegt. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. «Einen Lyrikband herausgeben, das wäre schon ein Wunsch.»
Ausstellung & Lesungen
noch bis 16. Dezember 2023 in der Galerie Adrian Bleisch in Arbon
22.03.24: Lesung bei Furkaradio
07.04.24: Lesung in der Kobesenmühle
25.04. bis 3.05.24: Ausstellung bei Visarte Ost im AUTO mit Willi Keller
Weitere Beiträge von Piera Cadruvi
- Der zähe Kampf ums Frauenstimmrecht im Thurgau (22.04.2024)
- Ein Liebesbrief an Arbon (16.01.2024)
- Vernetzen, entwickeln, sichtbar werden (04.12.2023)
- Wenn die Freude überschwappt (06.11.2023)
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