von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 08.03.2019
Der klingende Knast
Ein irrwitziges Projekt: Mehr als 80 Schüler und 10 Künstler wollen gemeinsam ein grosses Werk des amerikanischen Komponisten John Cage einstudieren. Und so ein altes Gefängnis zum Klingen bringen. Wie das gehen soll, erklärt die Pianistin Simone Keller.
Als der amerikanische Komponist John Cage (1912-1992) 1976 sein Werk „Apartment House 1776“ schrieb, hatte er vor allem eine Idee: 200 Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeit wollte er so etwas wie eine Ode an die Vielfalt komponieren. Er konstruierte dabei ein imaginäres Mehrfamilienhaus, das von einer Vielzahl musizierender Menschen bewohnt wird, die ganz verschiedene Musik spielen und singen, von Tanz- und Marschmusik bis zu sakralen Gesängen unterschiedlicher Religionen. Das gesamte Gebäude sollte klingen und die Zuhörer sollten ihre eigenen Komponisten werden, in dem sie sich frei durch das Haus bewegten und mal hier, mal dort einen Schnipsel Musik aufnahmen.
In diesem Geiste wagt sich das Künstler-Kollektiv ox&öl an ein aussergewöhnliches Projekt, das am 15. und 16. März an verschiedenen Orten in der Komturei Tobel uraufgeführt wird. 10 Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Disziplinen erarbeiten mit mehr als 80 Schülerinnen und Schülern der Sekundarschule Müllheim gewissermassen eine moderne Vision von Cages Komposition. Eine Woche lang dauern die Proben dafür, am Ende soll in dem Werk auch viel Platz für eigene Improvisationen und Kompositionen der Schüler bleiben. „Die Schüler sind das Projekt, John Cage ist die Inspiration“, fasst die aus Weinfelden stammende Pianistin Simone Keller den Rahmen von „Music of Cages“, so der offizielle Titel des Vorhabens, zusammen.
Videobeitrag zur Arbeit von ox&öl
Wie Unkenntnis manchmal auch zu Offenheit führen kann
Was am Ende dabei herauskommen wird, weiss Simone Keller von ox&öl auch noch nicht genau. Natürlich gebe es ein Konzept, „aber wir wollen bewusst offen bleiben, um möglichst viele Ideen der Schülerinnen und Schüler aufnehmen zu können“, erklärt Keller, die ox&öl gemeinsam mit dem Regisseur Philip Bartels 2014 gegründet hat. 2017 wurde das Duo mit dem Anerkennungspreis der Fachstelle für Kultur des Kantons Zürich ausgezeichnet, im selben Jahr wurden sie auch für ihre „richtungsweisende Vermittlungsarbeit“ für den Junge Ohren Preis in Frankfurt am Main nominiert. Die beiden wissen also, was sie tun. Trotzdem bleibt bei solchen Projekten immer ein Stück Ungewissheit. Erst recht, wenn wie in diesem Fall, die Schülerinnen und Schüler (im Alter von 13 bis 16 Jahren) bislang mit Neuer Musik im Allgemeinen und John Cage im Speziellen wenig anfangen können. Für Simone Keller muss das kein Nachteil sein. Aus Erfahrung weiss sie: „Wenn man etwas nicht kennt, ist da Zugang oft offener als wenn schon bestimmte Vorstellungen oder Zuschreibungen vorhanden sind“, sagt die Pianistin.
Künstlerisches Ziel von „Music of Cages“ ist es, dass die Profi-Musiker gemeinsam mit den Schülern „individuelle Klangskulpturen“ erstellen, wie es in der Projektskizze heisst. Über drei Stunden lang sollen diese an den Aufführungstagen 15. und 16. März in den ehemaligen Gefängnisräumen erklingen. „Dem von Cage geplanten ‚Ohrenfilm‘, der bereits rein akustisch eine vielfältige Szenerie erzeugt, bieten die Zellen, Personalzimmer, Waschräume, Vorratskeller und die eindrückliche Gefängniskapelle ein architektonisches Gegenüber, das einen kongenialen ‚Augenfilm‘ entsteht lässt, der über eine blosse Kulisse hinausgeht“, schreiben die Initiatoren in der Projektskizze.
«Musik zu machen bedeutet: Zuhören, aufeinander eingehen und auch gehört werden.»
Simone Keller, Pianistin
Vielleicht ist es gerade das, was Projekte von ox&öl von anderen Vermittlungsprojekten unterscheidet: Die Kunst steht hier im Vordergrund. Während andere Projekte die Jugendlichen oft in ihrer Lebenswirklichkeit abholen wollen, verlangen Simone Keller und Philip Bartels den jungen Menschen erstmal etwas ab: Offenheit und Interesse für ein Thema, das nicht per se das ihre ist. „Wir machen künstlerische Vermittlung, nicht pädagogische Vermittlung“, beschreibt Simone Keller den Ansatz von ox&öl. Sie ist davon überzeugt, dass sich über die künstlerische Arbeit, die pädagogischen Aspekte auch vermitteln: „Musik zu machen bedeutet zuhören, aufeinander eingehen und auch gehört werden. Das sind elementare Erfahrungen“, findet Keller. Mit ihren Projekten wollen sie auch eine Bühne für Kreativität sein: „Die Jugendlichen sollen spüren, dass in ihnen selbst viel Kreativität steckt. Bei uns kann man es anders ausleben als es vielleicht im normalen Schulalltag möglich ist“, erklärt Simone Keller.
Dass sie sich für dieses Projekt nun ausgerechnet für John Cage entschieden haben, sei für sie naheliegend gewesen, sagt die Pianistin. Vor allem aus zwei Gründen: Weil sie den Amerikaner für einen der prägenden Menschen der Kunst- und Kulturgeschichte hält und weil sie, wie sie selber sagt, einen gewissen missionarischen Eifer in der Vermittlung von Neuer Musik pflege. „Ich finde damit sollten sich viel mehr Menschen beschäftigen. Es liegt so viel darin“, so Keller. Für sie und ihren Kollegen ist die Entscheidung für Cages „Apartment House 1776“ aber auch ein politisches Statement. In diesen Zeiten ein „Plädoyer für kulturelle Diversität“ zu setzen, sei ihnen durchaus ein Anliegen.
Termine: «Music of Cages» wird am Freitag, 15. März (18 bis 21 Uhr) und Samstag, 16. März (16 bis 19 Uhr), in der Komturei Tobel aufgeführt. Das Projekt wird über das Kulturamt Thurgau aus dem Lotteriefonds gefördert. Der Eintritt ist frei. Spenden sind willkommen.
Die Macher und der Ort
Die Initiatoren: Seit 2010 arbeiten der Regisseur Philip Bartels und die Pianistin Simone Keller kontinuierlich zusammen und leiten seit 2014 gemeinsam das Künstler-Kollektiv ox&öl, das Projekte im experimentellen Musiktheaterbereich und partizipative Vermittlungsangebote für und mit Kindern mit Migrationshintergrund, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder jugendlichen Gewalttätern organisiert und durchführt. In den letzten Jahren hat ox&öl beispielsweise eine generationenübergreifende Musikwerkstatt für Kinder und Seniorinnen und Senioren in der Zürcher Tonhalle und im Grossen Saal des KKL Luzern lanciert sowie ein Sprechmusiktheater mit konkreter Poesie für Kinder und Erwerbslose.
Der Ort: Die ehemalige Johanniter-Komturei Tobel (siehe Bilder unten) entstand zwischen 1226 und 1228 und liegt an der Pilgerstrasse von Konstanz nach Einsiedeln. Zwischen 1809 bis 1973 wurde sie als „Zucht- und Arbeitshaus“, also als Gefängnis genutzt. Seither stehen die Räumlichkeiten leer und das Anwesen liegt in einem Dornröschen-Schlaf, in dem sie seit 2006 von der Stiftung Komturei Tobel gepflegt wird.
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