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von Samantha Zaugg, 23.04.2018

Das Leben als Revolte

Das Leben als Revolte
Marcel Hollenstein, Karl Steffen und ein Fernseher. Röhrenbildschirme spielten eine der wichtigen Rollen bei den Performances. | © Samantha Zaugg

Experimentelle Performancekunst im konservativsten Milieu, das man sich in den Achtzigerjahren vorstellen konnte, nämlich in Weinfelden. Das war das Schicksal der Gruppe «Halle K». Wie lebte es sich damals als Freigeist in der Ostschweiz? Eine Spurensuche anlässlich der Retrospektive am Samstag, 28. April, in Frauenfeld.

Von Samantha Zaugg

Experimentelle Musik, gespielt auf selbstgebauten Instrumenten. Das Ganze visualisiert mit Projektionen von Fotos und Videos. Dazu Gerüche, Pyrotechnik, nackte Menschen, Drogen, ein Pferd und überhaupt alles was man sich vorstellen kann. Solche Sachen hat die Gruppe «Halle K» als Kunst aufgeführt.

Obsolet zu erwähnen, dass man mit so etwas im Thurgau der Achtzigerjahre angeeckt ist.

Heute, dreissig Jahre später, sitzen Marcel Hollenstein und Karl Steffen in einem Atelier in der Frauenfelder Walzmühle und trinken Süssmost verdünnt mit Hahnenwasser.  Abendsonne flutet den Raum. Im warmen Licht sieht man die Staubkörnchen tanzen. Hollenstein und Steffen sind zwei der ehemals vier Mitglieder von Halle K.

Zusammen haben sie alte Video Aufnahmen digitalisiert und werden eine ihrer liebsten Performances im Eisenwerk neu inszenieren. Die Auftritte ab Mitte der Achtzigerjahre waren legendär, die Gruppe galt damals fast schon als Instanz in Sachen Performance. Grund genug, genauer nachzufragen.

Marcel Hollenstein und Karl Steffen, was war damals der Antrieb für eure Kunst?

M: Das hatte viel mit Auflehnung zu tun. Wir, oder sicher ich, habe immer den Weg des grössten Widerstandes gewählt. Praktisch in allem hatte es Revolte. Ich war bei vielen Auftritten nackt, oder nur mit Farbe angemalt.

Woher kam dieses Bedürfnis nach Revolte?

K: Ich bin da schon hineingeboren. Konservativer geht nicht. Geburtsjahr 1953, Weinfelden, Fabrikantensohn. Ich machte schliesslich eine Laborantenlehre in Zürich. Per Zufall bin ich dann mitten in die Globuskrawalle gelaufen. Da habe ich erst gemerkt, Zürich und Weinfelden, das waren zwei verschiedene Welten.
M: Man weiss heute gar nicht mehr wie stark die Zwänge waren. Zum Beispiel die Kirche oder das Militär. Ich habe die Kirche schon damals gehasst und trotzdem musste ich in die Jungwacht.

Marcel HollensteinMarcel Hollenstein. Bild: Samantha Zaugg

Wieso habt ihr euch gegen diese Zwänge aufgelehnt?

K: Man muss auch sehen, Revolte war damals nicht gefährlich. Die Polizei zum Beispiel. Die waren früher noch nicht so scharf.  Die damaligen Gummiknüppel, die waren wirklich noch aus Gummi, da bist du nicht ohnmächtig geworden, wenn du einen Schlag eingesteckt hast. Man musste allgemein weniger Konsequenzen in Kauf nehmen.
M: Ja, man konnte gut mal sagen, so, ich reise jetzt ohne Geld nach Marokko, trampe durch die Welt. Wenn du wieder zuhause warst, hattest du zwei Tage später wieder Arbeit.

Wie sind eure Performances damals angekommen?

K: Einige andere Künstler im Thurgau haben unsere Sachen schrecklich gefunden. Uns wurde vorgeworfen, wir könnten nicht komponieren, wir seien keine richtigen Musiker. Aber das war auch nicht unser Anspruch. Aber es gab doch viele Menschen die uns unterstützten.

Hier das Video zu Löffel:

Die Performance “Löffel” aufgeführt 1991 in der Murkart bei Frauenfeld.

Die Kunst die ihr damals gemacht habt ist bis heute unkonventionell. Nach wie vor findet das breite Publikum keinen Zugang zu Performances. Wie hat das die Gesellschaft ausserhalb von Künstlerkreisen reagiert?

M: Das war nicht einfach. In der 70ern war das am schlimmsten. Die Art wie man gedacht hat. Es gab keine Kultur, wie wir sie heute kennen. Es gab nur Volksfeste, traditioneller Tanz. In Weinfelden ist dann vor dem Pestalozzischulhaus ein Lastwagen aufgefahren, auf dem die Band gespielt hat.
K: Und die Wega.
M: Es war beengend. Ich hatte diese Sehnsucht nach Freiheit.

Hatten die Kulturschaffenden damals keine Freiheit?

K: Unser Glück damals war, dass an den Schalthebeln im Kanton sehr tolerante Leute sassen. Wir haben damals um Gelder angefragt. Die zuständigen Leute haben uns zwar nicht verstanden, und sie fanden auch nicht gut, was wir da machten. Aber sie waren trotzdem der Meinung, dass man dem, was wir da machen einen gewissen Raum geben muss.

Karl Steffen. Bild: Samantha Zaugg

Nicht nur eure Kunst, auch eure Lebensweise war unkonventionell. Vielleicht am ehesten das, was man heute unter Boheme versteht… Seid ihr damit angeeckt?

K: Ja, auf jeden Fall. Im Thurgau gab es solche Sachen auch gar nicht, da fehlte das Verständnis. In Weinfelden gab es genau einen Ort wo man Kunst sehen konnte, der Gublerkeller. Aber da gab es vor allem Kerzenziehen und Büsisachen. Was wir gemacht haben war etwas ganz anderes. Einmal haben wir auf der Bühne Sicherheitsglas zertrümmert. Und Marcel hat sich dann in die Scherben gekniet, nackt. Also es ist nichts passiert, es war ja Sicherheitsglas.
M: Ein bisschen geblutet hats schon, bei den Knien.
K: Ja, er hat eigentlich immer ein bisschen geblutet. Einmal hat er sich für eine Performance einen Bostitch in die Hand geschossen. Für eine Performance hat der Marcel sowas gemacht, ich könnte das nicht.

Hier das Video «Zitronensand».

Ohne Blut, dafür mit Pferd: «Zitronensand» 1993 performt in St. Gallen.

Könnt ihr die Gesellschaft wie sie damals im Thurgau war genauer beschreiben?

K: Im Thurgau war das damals so:  Da wusste man, was sich gehört und das Leben musste in gewissen Grenzen stattfinden. Hat man diese Grenzen überschritten, dann wurde es entweder ignoriert, oder die Gesellschaft hat zugeschlagen.
M: Damals gab es sogar noch Bettenkontrollen. Man durfte nicht unverheiratet zusammenleben. Da sind Leute gekommen und haben das kontrolliert und haben das ernst gemeint.
 
Bettenkontrollen. Das war also der damalige Zeitgeist. Dann kam der Sommer 1984 und mit ihm ein Schlüsselmoment für Halle K. Oder war es doch der Sommer 85?
 
K: Nein, Marcel, das war im 84.
M: Nein, ich glaube das war 85.
K: Warte, ich hab’ den Ordner mitgebracht.
M: Wenn du jetzt noch den Ordner holst werden wie nie mehr fertig.
 
Karl Steffen holt den Ordner doch. Ein dicker gelber Bundesordner, darin Zeitungsausschnitte, Konzertplakate und Fotos. So etwas wie das Halle K Archiv. Darin ist eben auch der Flyer zum Konzert in der ehemaligen Klinik Bellevue in Kreuzlingen. Es war doch 1984.
 
M: Das, dieses Konzert im Bellevue, das war so etwas wie unsere Eintrittskarte in diese neue Welt. Die haben in der ehemaligen psychiatrischen Klinik ein riesen Programm veranstaltet. Während mehreren Wochen ein Kunstevent, immer wieder Konzerte, Performances und Theater.
K: Das war riesig. So etwas hat es im Thurgau noch nicht gegeben. Da spielten auch bekannte Namen wie Stephan Eicher.
M: Das war sogar in der Schweiz einzigartig. Wir haben da alles mitgebracht was wir hatten. Zwei Diaprojektoren, zwei Hellraumprojektoren und dazu eine Stablampe zum Aufhängen, die hat dann immer so hin und hergependelt.

Der Ordner, das Halle K Archiv. Bild: Samantha Zaugg

Wieso habt ihr überhaupt begonnen Performancekunst zu machen?

M: Ich war eigentlich gar nie Musiker. Ich weiss nicht genau weshalb, aber mich hat einfach alles interessiert. Bilder, Musik und später dann auch Videos. Aber einfach Konzerte, das war mir einfach zu langweilig. Halle K macht Konzerte für alle Sinne. Wir haben auch mit Gerüchen gearbeitet, haben Parfüm versprüht.
K: Indoorfeuerwerk war auch immer ein Thema. Das war mein Bereich, da hat mir meine Laborantenausbildung geholfen. Bei einer Performance war es das Ziel, auf der Bühne einen Atompilz nachzubilden. Dazu habe ich Magnesium- und Rauchpulver in Büchsen gefüllt und das angezündet. Das war etwas gefährlich.
M: Ja da ist manchmal der Boden angeschmürzelt, weil die Büchse so heiss wurde.
K: Aber das hat dann jeweils meine Haftpflicht bezahlt. Und es wurde nie jemand verletzt.
 
Von allem, aber dafür viel. Als Gesamtpaket umwerfend und ekstatisch, in den Einzelteilen dafür aber nicht besonders solid, vielleicht schon beinahe dilettantisch. So lässt sich das Konzept von Halle K wohl am ehesten fassen. Dieses Konzept hatte Erfolg.

Halle K spielt Konzerte in der ganzen Schweiz, tourt in Deutschland. Mitte bis Ende Achtziger gibt es unzählige Zeitungsartikel und Magazinbeiträge – alles fein säuberlich aufbewahrt in Steffens Privatarchiv. Die Band wurde sogar von Radio DRS zum Best Newcomer gekürt. Als Preis durften sie zwei Songs im Studio einspielen. Halle K war auf dem Höhepunkt.

Dann kam der Zusammenbruch. Einerseits waren es interne Differenzen, anderseits auch die Drogen.

Was für eine Rolle haben Drogen bei eurer Musik gespielt?

K: Leider eine grosse.
M: Schon in der Anfangszeit waren Drogen da. Trinken, Kiffen, LSD, aber halt noch kein Heroin.
K: Es war auch eine Zeit, in der der Umgang mit Drogen noch ein anderer war, auch mit dem Heroin.
M: Heute ist das ganz anders, heute bist du ja schon halb tot, wenn du sagst, dass du mit Heroin nur schon Kontakt hattest.

Hättet ihr eure Kunst auch so gemacht, ohne Drogen?

M: Nein, also ich hätte das ohne Drogen nicht so gemacht. Mit Drogen sind Sachen schon anders, man nimmt Dinge anders wahr, ist irgendwie zugänglicher. Aber dafür waren wir auch unglaublich hart untereinander.
K: Das, dieses harte Verhalten, das waren die Drogen.
M: Ja, ich hab ja auch gedacht, als Band ist man eine Familie. Aber wir haben gekämpft, auch untereinander.
 
Mitte Neunzigerjahre hat sich die Band nach und nach aufgelöst. Interne Differenzen, Drogen, Druck von Managern und Labeln, eine professionell produzierte Platte, die floppt, das ist etwa die Kurzversion.

Und heute? Halle K tritt nochmals auf. Nicht mehr in ursprünglicher Besetzung, dafür mit befreundeten Musikern und neuer Inszenierung. Die Originalbesetzung, das waren nebst Steffen und Hollenstein, Daniel Frei, der inzwischen verstorben ist, und Daniel Wüthrich. Wüthrich führt heute ein professionelles Tonstudio. Daneben macht er Käse in Georgien, das ist auch der Grund weshalb er im Eisenwerk nicht dabei sein wird.

Die wilde Vergangenheit der Halle K steckt die Erwartungen für die Retrospektive hoch. Zu viel wollen die Künstler nicht verraten, vieles ist auch noch nicht ganz fest, noch nicht ganz geplant. Insofern sind sie sich treu geblieben. Pyroexplosionen wird es keine geben, das hat Steffen versichert. In diesem Bereich sind sie vielleicht ein bisschen zahmer geworden. Bleibt noch auf die Outfits zu hoffen. Marcel Hollenstein weiss jedenfalls noch nicht was er anzieht, vielleicht kommt er also doch noch nackt.
 

Veranstaltung – ShedBar mit Halle K

Die Multimedia-Gruppe Halle K inszeniert seit 1984 in wechselnder Besetzung live Auftritte, in denen Performance, Aktionen, Video- und Hellraumprojektionen, Licht und Feuer eine ebenso wichtige Rolle spielen wie Gesang, Tonband, Synthesizer, selbstgebastelte Noise-Instrumente und Gitarre. Am Samstag, 28. April bespielt Halle K die Shedhalle mit neuen und alten Sounds und Projektionen ihrer Musikvideos. Mit Mario Marchisella, Holger Walther, Hannes Bisegger, Leo Pedrocca. Zur Veranstaltung: https://www.eisenwerk.ch/calendar/48/673-Preferred-Videotapes/ 
  


Das ist der Schlagbass, eben eines dieser selbstgebauten Instrumente. Bild: Samantha Zaugg

Eine Metallkonstruktion mits Stahlseilen als Saiten und alten Gitarrenabnehmer. Bild: Samantha Zaugg

Und so tönt er: 

 

 


 

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