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Das Comeback der Chöre

Das Comeback der Chöre
So eng wie hier, wird es auch bei Chorkonzerten künftig nicht mehr zugehen. Es ist nicht die einzige Herausforderung, vor die die Corona-Pandemie Chöre auf der ganzen Welt stellt. | © Canva

Chorgesang ist in der Pandemie in den Ruf der Virenschleuder geraten. Jetzt kehren erste Chöre auf die Bühne zurück. Heinz Meyer, Leiter des Weinfelder Vokalensemble Cantemus, will damit andere Chöre ermutigen.

Die Meldungen lasen sich nicht gut. Nach einer Chorprobe des Skagit Valley Chorale in der Nähe von Seattle am 10. März hatten sich von 61 Mitgliedern mutmasslich 53 Personen mit dem Coronavirus angesteckt - ausgelöst durch eine infizierte Person. Drei der Erkrankten mussten ins Krankenhaus, zwei von ihnen starben. Zwei Tage zuvor ein ähnlicher Fall in den Niederlanden: Nach der Aufführung eines Passionskonzertes wurden 102 der 130 LaiensängerInnen des „Het Amsterdams Gemengd Koor“ mit dem Coronavirus infiziert. Vier Menschen, darunter drei Partner von Chormitgliedern, überlebten Covid-19 nicht.

Der Ruf als gefährliche Virenschleuder war dem Chorgesang seither sicher. Dabei ist die wissenschaftliche Einschätzung in der Sache immer noch nicht eindeutig. „Im Chor zu singen ist sehr gefährlich“, sagte beispielsweise Musik-Mediziner Eckart Altenmüller gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Altenmüller leitet das Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.

Die Gefahr durch Aerosole

Neben der klassischen Tröpfcheninfektion gehe vor allem von den sogenannten Aerosolen eine Ansteckungsgefahr aus, erläuterte er. Das sind kleinste Tröpfchen, die so leicht sind, dass sie in der Luft schweben. Unter bestimmten Bedingungen halten sie sich nach Auskunft des Mediziners bis zu drei Stunden in der Luft. Aerosole können laut Altenmüller etwa drei bis fünf Meter weit fliegen.

„Wenn wir vermeiden wollen, dass sich diese Pandemie wieder ausbreitet, dann sollten wir im Moment keinen Chorgesang erlauben“, sagte Altenmüller. Optimistisch geschätzt könne das Singen in grossen Chören in geschlossenen Räumen vielleicht Mitte September wieder beginnen.

Inniges Sozialverhalten problematischer als das Singen selbst

Zu einer anderen Einschätzung kommt die Universität der Deutschen Bundeswehr in München. Sie hatte Anfang Mai nach Experimenten mit SängerInnen mitgeteilt, dass sie „eine Virusausbreitung über die beim Singen erzeugte Luftströmung“ über eine Grenze von einem halben Meter hinaus für „äusserst unwahrscheinlich“ halte und zu einem Mindestabstand von 1,5 Metern geraten.

Aus ihrer Sicht könnte das Sozialverhalten der Menschen während der Probe eine grössere Rolle spielen: „Wenn besonders kontaktfreudige Menschen andere Chormitglieder mit Umarmung und Küsschen begrüssen, sich in der Pause angeregt unterhalten, nach der Probe noch in geselliger Runde Abendessen oder einen Wein miteinander trinken, bevor sie sich herzlich verabschieden, kann davon ausgegangen werden, dass dieses Sozialverhalten im Falle einer Infektion kritischer ist als das Singen selbst.“

Cantemus gibt Konzerte in Weinfelden und Bischofszell

Die unterschiedlichen Perspektiven macht es Chören nicht gerade leichter mit der Situation umzugehen. Manche ziehen sich komplett zurück, andere versuchen eine vorsichtige Öffnung. So zum Beispiel das Weinfelder Vokalensemble Cantemus. Am Samstag (20. Juni) und Sonntag (21. Juni) gibt der Chor erstmals wieder Konzerte. In Weinfelden und Bischofszell. „Wir wollen damit auch ein Zeichen setzen“, sagt Chorleiter Heinz Meyer im Gespräch mit thurgaukultur.ch. Seine Hoffnung: „Für viele andere Laienchöre könnte das sicher aufmunternd und anspornend wirken.“

Wagt den Neuanfang: Das Weinfelder Vokalensemble Cantemus. Bild: zVg


Dass ausgerechnet Heinz Meyer zu den Öffnern des Chorbetriebs ist auch deshalb erstaunlich, weil er selbst erfahren hat, was das Virus anrichten kann: Eine 83-jährige Sängerin aus einem anderen Kirchenchor, den er leitet, ist im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Es hat ihn nachdenklich gemacht und in der Folge hat er viel gelesen, viel recherchiert, um herauszufinden, was das Virus denn nun tatsächlich für Chöre bedeutet. „Stand jetzt bin ich davon überzeugt, dass man unter den Vorgaben des BAG und mit guten Schutzkonzepten heute wieder Chorkonzerte durchführen kann“, so Meyer.

„Ohne Singen zu können, wäre es den meisten von uns in dieser oft bedrückenden Zeit nicht gut gegangen.“

Heinz Meyer, Chorleiter

Der Weg dahin war lang. Auch das Vokalensemble musste erstmal einen richtigen Umgang mit der Situation finden. „Ohne Singen zu können, wäre es den meisten von uns in dieser oft bedrückenden Zeit trotz blühendem Frühling nicht gut gegangen. Also haben wir nach Möglichkeiten gesucht, dem Virus und den widrigen Umständen zu trotzen“, sagt der Chorleiter.

Die Rückkehr in den Probebetrieb erfolgte bei Cantemus über mehrere Stufen. In der ersten Phase lief viel digital: Entweder probten die SängerInnen für sich daheim oder per Videoschaltung mit einem Stimmtrainer. Absprachen zur Einstudierung und Gestaltung liefen ebenfalls über Videotelefonate. Als echte Proben im kleinen Kreis wieder möglich wurden, hat Heinz Meyer seine 18 SängerInnen in Quartettformationen eingeteilt und so mit ihnen gearbeitet. Seit 6. Juni proben sie wieder alle gemeinsam.

Wie die neue Chor-Aufstellung den Klang verändert

Allerdings unter geänderten Bedingungen: „Wir halten uns an alle Vorgaben“, sagt Meyer. Zum Beispiel stehen die SängerInnen im Abstand von etwa 2 Meter nebeneinander. Das hat auch Konsequenzen für den gesamten Betrieb. Nach Tongruppen, also Tenor, Bass, Sopran, Alt, aufzustellen ergebe da keinen Sinn mehr. „Wir stehen jetzt völlig durchmischt“, erklärt der Chordirigent. Interessanter Nebeneffekt dabei für ihn: „Der Chor klingt jetzt viel voluminöser, es ist ein ganz anderes Klangerlebnis“, freut sich Heinz Meyer.

Weiterer Lohn des fleissigen Probens: Das Ensemble hat nun ein Programm einstudiert, das sie vor Publikum aufführen können. Ein Serenadenkonzert mit „Liedern von Freud und Schmerz, Flora und Fauna, Frühling und Sommer“, sagt Heinz Meyer. Wichtig ist ihm noch: Die Teilnahme daran war für die SängerInnen vollkommen freiwillig. Niemand werde zum Auftritt gezwungen. Aus dem Ensemble habe sich letztlich nur eine Sängerin aus dem Projekt zurückgezogen.

Video: Chorgesang in Zeiten der Pandemie (Coronavirus Rhapsody, Phoenix Chamber Choir)

Statt im Freien finden die Konzerte nun in Kirchen statt

Meyers ursprüngliche Idee, die Konzerte im Freien abzuhalten, um die Virenlast möglichst gering zu halten, liess sich nicht umsetzen. „Die örtlichen Behörden rieten uns, unsere Konzert in die Kirche zu verlegen, da dort die geltenden Sicherheitsmassnahmen einfacher umzusetzen sind. Dort ist man durch die Erfahrung mit den ersten Gottesdiensten besser auf einen solchen Anlass vorbereitet.“ So wird nun am Samstag in der Evangelischen Kirche Weinfelden und am Sonntag in der Kirche St. Pellagius in Bischofszell gesungen.

Mit seinem Engagement will Heinz Meyer auch einem weiteren Chorexodus entgegen wirken. Bereits jetzt hören in der Schweiz pro Jahr 50 Laienchöre aus Altersgründen auf, sagt er. Trauen sich Chöre aus gesundheitlichen Gründen jetzt nicht mehr auf die Bühne, dann werde das Coronavirus diese Situation weiter verschärfen, befürchtet Meyer.

Andere Chöre sind zurückhaltender

Unter KollegInnen ist Heinz Meyers Vorgehen durchaus umstritten. „Einige haben gesagt, es sei zu riskant, nicht alle teilen unsere Auffassung, dass das ein guter Schritt ist“, sagt der Chorleiter. Er bleibt trotzdem bei seiner Sichtweise. Nach Abwägung aller Kriterien spreche bei aktuellem Wissensstand nichts gegen das Konzert, findet Heinz Meyer.

Ob das das Publikum auch so sieht? „Das ist die grosse Frage“, sagt Meyer, „wir werden es am Wochenende herausfinden.

 

Mehr zum Thema

Wie andere Chöre in der Schweiz mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen umgehen: https://www.srf.ch/kultur/musik/online-proben-wie-choere-der-coronakrise-trotzen

 

 

 

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