von Andrin Uetz, 14.05.2019
Auf dem Weg zum Cyber-Barock
Opern, Theater, Musiktheorie - Johannes Keller ist in vielen Welten Zuhause. Für die Verschmelzung von Computer und Renaissance bekommt er jetzt einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. Teil 3 unserer Serie über die Gewinner der Förderbeiträge 2019.
Wer beim Stichwort Alte Musik an selbstgebackenes Brot, Birkenstock und Blockflöten denkt – heut alles zwar eh total hip und angesagt – oder gar den von Adorno als sektenhaften Bach-Anhänger charakterisierten Typus des “Ressentiment-Hörers” (vgl. Einleitung in die Musiksoziologie, S. 22), welcher sich vom vorherrschenden Warencharakter des Musikbusiness angewidert in vermeintlich bessere Perioden zurück flüchtet, liegt bei Johannes Keller ziemlich falsch.
Der 1984 geborene Musiker wirkt bei einer grossen Zahl von Projekten, von Opernproduktionen bis zu theatralischen Ensemble-Auftritten mit, die in ihrer Fülle und Diversität hier gar nicht alle aufgezählt werden können. Mal eine Assistenz bei Andrea Marcon für ein Vivaldi Oratorium in Amsterdam, musikalische Leitung für Ewald Palmetshofers «König Arthur» am Theater Basel, eine CD-Aufnahme mit dem La Cetra Barockorchester Basel und manches mehr.
Mehr als nur Schall und Rauch
Besonders hervorzuheben ist das Ensemble Il Profondo, dessen Kernbesetzung aus acht Basso-Continuo-Spielenden besteht, welche je nach Produktion durch GastmusikerInnen ergänzt werden. Im Jahr 2008 gegründet, deckt das Ensemble ein relativ breites Repertoire im Bereich der Renaissance und Barockmusik ab, scheut sich aber auch nicht vor Uraufführungen, etwa einer Komposition von Caspar Johannes Walter im Rahmen der slapstickartigen Performance “Sono Un Fumo” in Zusammenarbeit mit der Musiktheatercompanie La Cage (Regie: Aliénor Dauchez) in Berlin. Letztere war übrigens als Performerin auch Teil des 2016 vom forum andere musik in Frauenfeld veranstalteten Klangfestivals “Masse – Dichte – Frequenz”. Johannes Keller engagiert sich im Vorstand des forum andere musik.
Dass Il Profondo auch ruhiger kann, zeigte die Aufführung “Les Offices de Ténèbres” unter der Regie von Michael Kleine im Kloster Beinwil. Ein Ausloten von Dunkelheit und Stille sei das gewesen, meint Keller im Gespräch mit thurgaukultur.ch.
Der Blick zurück als Steigerung der Gegenwart
Zur historischen Aufführungspraxis hat der Musiker dann auch ein entspanntes Verhältnis: Gewiss seien seine Aufführungen historisch informiert, doch zähle für ihn die Gegenwart: „Nur weil man Kostüme im Stil der Renaissance trägt, ist eine solche Inszenierung ja nicht historisch. Die interessante Frage daran ist vielmehr, was macht die Aufführung mit den Zuhörenden?“, so Keller. Es geht ihm im weitesten Sinn immer darum, den Horizont zu erweitern.
Dass man dafür auch mal in die Verganganheit schauen kann, leuchtet ein. Von musikwissenschaftlichen Diskussionen, auf welchen Instrumenten man nun Barockmusik spielen soll und in welcher Tradition (historische, romantische, aktualisierende), lässt sich der Musiker nicht beirren. Seine Herangehensweise sei historisch informiert, aber auch ebenso aktualisierend.
Von Vielstimmigkeit bis zur Mikrotonalität
Forschung, Technik und Musikpraxis verbinden sich bei Keller auf scheinbar natürliche Weise. Als Teil des Kollektivs Studio 31 sorgte er für internationales Aufsehen mit dem originalgetreuen Nachbau einer mikrotonalen Orgel (arciorgano) nach der Beschreibung eines musikpraktischen Traktats von Nicola Viccentino aus dem Jahr 1555.
Etwas vereinfacht gesagt hat diese Orgel pro Oktave nicht wie gewohnt zwölf Tasten, sondern 36. Dadurch gibt es keine Enharmonische Verwechslungen, weil sich Töne, welche mit # und b Zeichen notiert werden, real unterscheiden. Dies ermöglicht es, reine Intervalle zu spielen, wie sie in gängigen System der wohltemperierten Stimmung auf Tasteninstrumenten sonst nicht möglich sind. Das damit nicht nur Renaissance-Musik gespielt werden kann, beweist unter anderem ein Experiment mit einer just intonation Stimmung nach dem Amerikanischen Komponisten Harry Partch.
Reinhören: So klingt die Orgel Arciorgano
Der ephemere Klang der Programmiersprachen
Als wäre das nicht schon genug Vielfalt und Klangintensivität, überrascht Johannes Keller mit der Antwort auf die Frage, womit er sich denn für den ihm zugesprochenen Förderbeitrag beworben hätte. „Ich will meine Kenntnisse in den Programmiersprache Extempore vertiefen. Damit lassen sich mittels live coding Klänge erzeugen. Damit kann ich ähnliche Möglichkeiten ausschöpfen, wie mit dem arciorgano. Das ist für Musik und Theorie im Bereich der Vielstimmigkeit und Mikrotonalität besonders interessant“, sagt Keller. Er speichere nichts, merke sich aber die Befehle, so dass dieses live coding wie das Spielen eines Instruments sei. Der Computer als Renaissance-Instrument? Für Johannes Keller zumindest in praktischer Hinsicht kein Problem. Die Welt scheint bereit zu sein für die Idee eines Cyber-Barocks.
Zur Person
Johannes Keller ist 1984 geboren, in Weinfelden aufgewachsen und hat in Frauenfeld die Kanti gemacht. Darauf studierte er an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis Alte Musik mit Konzertdiplom auf dem Cembalo. Es folgte ein zusätzliches Masterstudium in Generalbass und Ensembleleitung. Seither ist Keller viel unterwegs – zum Zeitpunkt des Interviews gerade zurück von einer Konzerttournee mit dem Duo L’Istante durch Japan – doch seinen Lebensmittelpunkt hat er immer noch in Basel.
Die Förderbeiträge und die Serie
Einmal im Jahr vergibt der Kanton Thurgau persönliche Förderbeiträge an Kulturschaffende aus dem Thurgau. In diesem Jahr gehen die mit jeweils 25.000 Franken dotierten Beiträge an fünf verschiedene Künstlerinnen und Künstler. Ausgezeichnet werden in diesem Jahr Usama Al Shahmani (Autor, Frauenfeld), Samir Böhringer (Musiker, Lengwill), Johannes Keller (Musiker, Basel), Alex Meszmer / Reto Müller (bildende Künstler, Pfyn) und Rahel Wohlgensinger (Theaterschaffende, Kreuzlingen).
Die Serie: Alle ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler stellen wir in einer Porträt-Serie vor. Bereits erschienen sind:
(1) «Ich bin im Herzen ein Theatermensch»: Usama Al Shahmani im Porträt
(2) Auf der Suche nach dem eigenen Stil: Samir Böhringer im Porträt
(3) Auf dem Weg zum Cyber-Barock: Johannes Keller im Porträt
(4) Eigentlich ist sie sehr viel: Rahel Wohlgensinger im Porträt
(5) Die Gegenwarts-Archäologen: Das Künstler-Duo Meszmer/Müller
Anders als in den vergangenen Jahren werden 2019 nur 5 statt 6 Förderbeiträge vergeben. Das liegt daran, dass in diesem Jahr auch das Atelierstipendium in New York City vergeben wurde. Es geht an Rhona Mühlebach und Reto Müller. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, welche sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt.
Preisverleihung: Einen Bericht zur Preisverleihung vom 21. Mai 2019 im Theaterhaus Thurgau gibt es hier.
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