von Barbara Camenzind, 03.05.2022
Händel mit der Maultrommel

Klangreich Romanshorn, das Thurgauer Biotop für unschubladisierte Musik, wartete am Sonntag mit einem besonderen Leckerbissen auf: Das europäische Ensemble Supersonus, war zu Gast. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)
Ostinato, Chaconne, Ritornell, Passacaglia: Die alten Barockmeister und ihre kompositorischen Formen sind eine Fundgrube für kreative Repetitionen. Loops, wie sie auch im Jazz und der überlieferten Volksmusik zu finden sind.
Mit der Rosenkranzsonate von Heinrich Ignaz Franz Biber zauberten die fünf Musiker:innen des Ensemble Supersonus, ein Kollektiv aus kreativen Klangforscher:innen und Grenzgänger:innen, betörend zarte und einnehmende Klangreigen in die mittelalterliche Kirche. Diese Barockmusik ist bester Trancedance von damals, um es neudeutsch zu benennen.
Gesang von einer anderen Welt
Die fliessenden Übergänge zwischen Stilepochen, Musikinstrumenten, Solo-Duett- und Ensemblespiel übten eine Sogwirkung aus, dem die Zuhörenden bis zum Schluss verfallen waren.
Und dann war da dieser Gesang, der von einem anderen Planeten zu stammen schien.
Die Sängerin Anna-Maria Hefele ist eine Meisterin des Obertongesangs. Diese Spärenklänge, die durch die Formanten und Resonanzräume oberhalb des Kehlkopfs entstehen und es der Künstlerin erlaubt, sozusagen zweistimmig zu singen. Wobei der Basiston etwas zurückgenommen wird und die Obertöne verstärkt werden.
Video: So klingt der Obertongesang
Hildegard von Bingen mit 3D-Effekt
Die meisten Obertonsänger:innen schaffen die ersten Teiltöne ganz gut, Hefele schafft sie alle und ist in der Lage, so wie eine Flöte bei Händel und Andrea Falconieri mitzuspielen.
Den sängerischen Vogel abgeschossen hatte sie jedoch bei Hildegard von Bingens „O Antiqui Sancti“. Es schien, als würde sie einen Teil des Antiphons mit der Grundstimme singen - und einen guten Teil der wirklich schweren gregorianischen Melismen mit den Obertönen. Das war Hildegard mit 3D-Effekt - und wirklich sehr beeindruckend.
Schlüsselfidel, Tafelklavier und Kantele
Wolf Janscha mit seiner Maultrommel, war nicht minder reich an Obertönen. Zarteste Saitenklänge entlockte die in Estland lebende Anna-Liisa Eller der finnischen Zither, Kantele genannt, die in ihrer Form, weniger in der Spielweise entfernt an das Appenzeller Hackbrett erinnerte.
Marco Ambrosini und seine auch Nyckelharpa genannte Schlüsselfidel bewiesen, dass das alte schwedische Volkmusikinstrument nicht nur Brücken baut zu den Tasteninstrumenten, sondern als Brückenbauerin zwischen Volksmusik und Kunstmusik agierte.
Raus aus den Schubladen
Wobei: Gibt es diese Unterscheidung wirklich? Bei Supersonus hat beides Platz im Lustgarten der Töne. Unterstützt in dieser poetischen Unterwanderung stilistischer Schubladen wurde das Ensemble durch Eva-Maria Rusche an der Truhenorgel und dem Tafelklavier. Ihr Capriccio sopra il cucu, die Kuckucksmusik von Johann Caspar von Kerll sorgte für einen lustigen Kontrast in dem sonst sehr sphärischen Set.
Kontraste nicht gleich Konflikte
Was Georg Friedrich Händel wohl dazu gesagt hätte, dass bei HWV 448 eine Maultrommel mitspielt, wollen wir wohl besser nicht wissen (er galt im Alter als etwas cholerisch…). 2022 in Romanshorn kam das Supersonus-Arrangement seiner Chaconne sehr gut an. Händel ist einfach the Master of Tunes.
Als bei der Zugabe das berühmte Follia-Ostinato aus dem 17. Jahrhundert plötzlich den Blues bekam, war die Begeisterung des Publikums perfekt. Supersonus will Kontraste und Unterschiedlichkeiten nicht als trennendes Konfliktpotential verstanden wissen. (Mit besten Grüssen an die Politik.) Die Musiker:innen vertrauen auf die verständigende Kraft der Töne.

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