von Brigitte Elsner-Heller, 09.05.2018
Überlebensstrategie für das Menschsein
Zum zweiten Mal erhält die Performerin Micha Stuhlmann einen Kulturförderbeitrag des Kantons. Mit ihrem «Laboratorium für Artenschutz» will sie der Kunst und dem Leben näher kommen. Der Beitrag ist der Auftakt unserer Serie über alle sechs Gewinner der mit jeweils 25.000 Franken dotierten Förderbeiträge des Kantons Thurgau.
„Guten Tag, ich bin Micha Stuhlmann“. Die Website der Künstlerin, die in diesem Jahr zum zweiten Mal den Kulturförderbeitrag des Kantons Thurgau erhält (bereits 2013 war sie Preisträgerin), lässt schon bei der medial vermittelten Begrüssung ein Bild davon entstehen, wer diese Frau ist, die vor fünf Jahren ihr Domizil von einer ehemaligen Textilfabrik in Müllheim nach Kreuzlingen verlegt hat: Die Begegnung mit Menschen steht für sie im Mittelpunkt und schlägt sich entsprechend in ihrer künstlerischen Arbeit nieder. „Die Suchbewegung ist mir wichtig“, sagt sie, um gleich eine frappierende Begründung dafür zu liefern: Sie wisse ja nichts. Das sei eine Herausforderung, die bei jeder Begegnung mit Menschen vorhanden sei. „Ein erster Eindruck, die Stimme, vielleicht eine E-Mail … und dann steht dieser Mensch vor einem.“
Theaterproduktionen mit gesellschaftlicher Relevanz
Sie hat in den vergangenen Jahren neben ihren eigenen Soloperformances Theaterproduktionen mit Laien auf die Bühne gebracht, die jeweils recht unterschiedliche Lebensläufe und damit Lebenserfahrungen mitbrachten. „Es gibt heutzutage viel Aufbruch und Umbruch, Werte werden infrage gestellt – was nicht nur negativ ist“, sagt Micha Stuhlmann. Das Feld, auf dem sie arbeite, erscheine ihr daher gesellschaftspolitisch wichtig. „Ich sehe das eigentlich erst im Rückblick“, ergänzt sie und ist damit an dem Punkt, wo der diesjährige Förderbeitrag des Kantons Thurgau ins Spiel kommt. Denn nach mehreren Produktionen mit unterschiedlichen Menschen, die auf beträchtliche Resonanz gestossen sind, möchte Micha Stuhlmann sich nun grundsätzlicher mit dem auseinandersetzen, was sie längst in der Praxis realisiert hat.
"Guten Tag, ich bin Micha Stuhlmann": Die Kreuzlinger Performerin in ihrem Atelier. Bild: Brigitte Elsner-Heller
Anerkennung von Vielfalt
Sie will ein „Experimentier- und Forschungsfeld zwischen Kunst und Leben, zur Verbesserung der (Über-)Lebenschancen bedrohter Arten“ einrichten, wie sie in ihrem Projektantrag formulierte, der den Titel trägt „Laboratorium für Artenschutz“. „Ich nehme mir nicht das Recht heraus zu definieren, was schützenswert ist. Es steckt auch eine Provokation darin“, erklärt sie. „Wir leben alle mit unserer eigenen Erfahrung, haben von daher einen Tunnelblick.“ Hier betrifft jedenfalls der Artenschutz uns Menschen, Fragen der Anerkennung von Vielfalt. „Ein Grundanliegen des Kunst-Projektes ist, Menschen aus dem Nischenbereichen der Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, sich ins Licht zu stellen, sich Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen“, konkretisiert Micha Stuhlmann im Projektantrag.
Suchbewegungen in Berührung mit Menschen
Musik, Tanz und Bewegung waren für Micha Stuhlmann, geboren 1962, schon immer bedeutsamer Bestandteil des Lebens. In Ochsenhausen besuchte sie das Musische Gymnasium, wollte zunächst auch Musik studieren. Als Jugendliche sang sie in einer Band und entdeckte nicht nur den Tanz für sich, sondern auch Sigmund Freud. Was so längst Bestandteil ihres Alltags war, verfestigte sich anschließend auch in der beruflichen „Suchbewegung“: Micha Stuhlmann studierte Tanz und Musik am Mozarteum in Salzburg, kam im Rahmen einer Ausbildung in Sozialpädagogik aber auch in Berührung mit Menschen, die auf ihre Art „anders“ waren. Mit Kindern und Jugendlichen, die verhaltensauffällig waren, mit Menschen, die körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen hatten. „Gleichzeitig habe ich immer getanzt und Musik gemacht“, sagt die Performerin, die heute eigene Auftritte bestreitet, als Musik- und Tanztherapeutin arbeitet und nun auch das systematisch aufarbeiten will, was sie in den vergangenen Jahren mit ihren Ensembles erarbeitet hat.
Konturen klar herausstellen
Über die fortlaufende Entwicklung neuer Produktionen hinaus möchte Micha Stuhlmann etwa eine Textsammlung anlegen, eine Bibliothek zum Thema aufbauen und die Kommunikationskanäle erweitern. Nach der aktuell noch laufenden Produktion 'Beine baumeln himmelwärts' soll es daher zunächst einen Break geben. „Die Konturen des Projekts müssen klar herausgestellt werden“, sagt Micha Stuhlmann. Neben der theoretischen Aufarbeitung wird es dabei auch um praxisnahe Fragen gehen. Etwa um die, wie die Produktionen so ausgestattet werden können, dass sie „leichter“ unterwegs sind, um etwa auch an Festivals teilnehmen zu können.
Lebensgeschichten unterscheiden sich nicht grundsätzlich
Mit „Wo ist Klara?“ kam 2012 die erste Produktion mit Laien auf die Bühne, für das Projekt war Micha Stuhlmann vom Bildungsclub Thurgau angefragt worden. „Da wusste ich noch gar nichts, das war eine Carte blanche“, erinnert sie sich. Zu dem Ensemble fanden Menschen zusammen, die kognitiv beeinträchtigt waren. Micha Stuhlmann empfand die Gruppe trotz mancher „Stolpersteine“ doch als homogen: „Manche Geschichten sind eben gleich, wenn auch nicht unbedingt auf der sprachlichen Ebene.“ Dann kommt etwa der körperliche Ausdruck stärker ins Spiel oder es kann die Singstimme sein. Dass „Wo ist Klara“ vom Filmemacher Raphael Zürcher begleitet wurde, empfindet Micha Stuhlmann bis heute als Glück. Und bis heute arbeitet sie gern mit Videos und Projektionen. Denn wenn ein Ensemblemitglied während der etwa einjährigen Produktionsphase ausscheide, sei es trotzdem auch bei der Premiere immer noch mit dabei und hat Spuren hinterlassen.
Micha Stuhlmann bei der Arbeit mit ihrem Ensemble am aktuellen Stück "Beine baumeln himmelwärts". Bild: Inka Grabowsky
Das „wilde Pferd Wahrnehmung loslassen“
Auf „Wo ist Klara?“ folgte 2014 „Nur mit mir allein zum Glück“, eine Kooperation mit der Institution Betula in Romanshorn. Das Ensemble war diesmal grösser und gemischter geworden, auch Bewohner von Romanshorn spielten mit. Dann 2016 „Im Dunkelwasser fischen“ und die akuell noch laufende Produktion „Beine baumeln himmelwärts (Premiere Oktober 2017)“, die Ende Juni noch zweimal in Kreuzlingen zu sehen sein wird. Die sonst übliche abschliessende Applausrunde wurde ersetzt durch den gemeinsamen Tanz mit dem Publikum – um zu zeigen, dass Menschen so oder so in ihrem Mensch-Sein immer dazu gehören.
Die Arbeiten von Micha Stuhlmann sind stets von fein durchkomponierter Ästhetik bestimmt, die stimmige Bilder erzeugt, die durch Musik, Klänge, Gesang oder Alltagsgeräusche angereichert werden. Eine lineare Erzählung ist dabei nicht unbedingt vorgesehen. Aber „man kann das wilde Pferd Wahrnehmung loslassen“, wie Micha Stuhlmann mit all der Kraft ihrer Imagination formuliert. Und: „Es gibt nie nur DIE EINE Geschichte“. Für Micha Stuhlmann schliesst das mittlerweile auch mit ein, dass sie nicht mehr darauf abheben möchte, wie es mit der Vielfältigkeit der Ensemblemitglieder nun bestellt sein mag.
Die Förderbeiträge und die Serie
Die Förderbeiträge: Es werden pro Jahr maximal sechs Förderbeiträge zu Fr. 25 000.– an Thurgauer Kulturschaffende vergeben. Die Förderbeiträge sind als Kunststipendien für die künstlerische Weiterentwicklung bestimmt und sollen nicht primär für die Realisierung von Kunstprojekten eingesetzt werden. Die Übergabe der Förderbeiträge findet im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung am Donnerstag, 31. Mai 2018, um 19 Uhr im Kino Roxy in Romanshorn statt. Eine Liste aller bisherigen Gewinner gibt es hier zum Nachlesen
Die Serie: In einer Serie stellen wir alle sechs Begünstigten der diesjährigen Kulturförderbeiträge vor. Neben Micha Stuhlmann sind dies: : Felix Brenner, bildender Künstler, Altnau; Sarah Hugentobler, bildende Künstlerin, Bern; Beat Keller, Musiker, Winterthur; Vincent Scarth, bildender Künstler Zürich; Olga Titus, bildende Künstlerin, Winterthur.
Teil 2 der Serie über Felix Brenner: Der bildende Künstler Felix Brenner ist einer der sechs Preisträger des Förderpreises für Kulturschaffende des Kantons Thurgau. Thurgaukultur traf ihn in seinem Zuhause in Altnau: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3596/
Teil 3 der Serie über Sarah Hugentobler: Zeitgeistig und ein bisschen unheimlich: Sarah Hugentobler hält ihr Publikum in Atem. https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3617
Teil 4 der Serie über Beat Keller: Der Weinfelder Beat Keller ist Noise-Musiker. Er spielt mit einer Feedbacker-Gitarre, einem weltweiten Unikat, experimentelle Musik. Ende Monat erhält er dafür einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau. https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3624/
Infokasten:
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