von Jeremias Heppeler, 21.08.2017
Trio Infernale

Die Kanadierin Leslie Feist erscheint seit nunmehr knapp zwei Jahrzehnten als Popphänomen und unsichtbarer Superstar der Indieszene. In Winterthur spielte sie ein bemerkenswertes Konzert – und weil auch ihre beiden Voracts grandios ablieferten, wird dieser Abend wohl lange in Erinnerung bleiben.
Text und Bilder: Jeremias Heppeler
So! Nicht lang schwätzen, ab in die Steinberggasse. Den Auftakt macht Andy Shauf. Andy wer? Aufgepasst: Der Kanadier gehört zu den talentiertesten Singer-Songwritern des nordamerikanischen Kontinents. Ein absolutes Ausnahmetalent, das gegenwärtig die Indieszene in Aufruhr versetzt. Wobei Aufruhr wohl das falsche Wort ist. Shauf gibt sich als gläserner Musiker, der bei jeder Berührung zu zerspringen droht. Auch in Winterthur steht der langhaarige Musiker beinahe verloren auf der Bühne, haucht zwischen den Song nur dezent verwirrte Ansagen ins Mikrofon. „Ähm, es wird ein, puh, grandioser Musikabend. Ähm. Viel Spaß!“ So zärtlich und zerbrechlich erscheinen auch seine Kompositionen, die aber doch eine immense Anziehungskraft auf seine Hörer ausüben.
Andy Shauf eröffnete den Konzertabend mit einer zurückhaltenden, fast zerbrechlichen Show.
Unter dem Video seines herausragenden Tiny Desk-Konzert lautet der Topkommentar: „Ich glaube so schnell war ich noch nie besessen von einem Musiker!“ Shauf spröde Fragilität erinnert an eigenartige Künstler wie Daniel Johnston, vor allem aber drängt sich der Vergleich zu Elliot Smith auf, jenem unvergessenen Songwriter, der sich 2003 das Leben nahm. In diesem Netz der Verweise findet Shauf seinen ganz eigenen Weg. Bemerkenswert ist die Bandbesetzung: Neben Bass, Gitarre, Schlagzeug und Klavier wird der Musiker von gleich zwei Klarinettisten begleitet. Das macht eigentlich keinen so richtigen Sinn und doch setzt die Mini-Bläser-Kombo mit ihren dys-funktional dahin gezitterten Parts außergewöhnliche Ausrufezeichen: !!!
Gänsehaut über den Rücken bis über die Kopfhaut
Ich will ehrlich sein: Vor dem Konzert von Glen Hansard war ich kein Fan des irischen Musikers. Sein mit dem Oscar ausgezeichneter Song „Falling Slowly“ war mir viel zu kitschig und überhaupt erschien mir diese ruppiger Ire mit Gitarre und kratzigen Balladen-Nummer irgendwie ausgelutscht. Tausendfach gehört. Die Ankündigung, dass Hansard seinen Gig in Winterthur ohne Band bestreiten würde, machte es nicht besser. Eineinhalb Stunden Singer-Songwirter-Gitarrengeplänkel können sich ganz schön ziehen. Doch es kam anders. Ganz anders. Die Bühnenpräsenz des bärtigen Lockenschopf ist ab der ersten Sekunde zu spüren. „Als ich das letzte Mal hier gespielt habe, da war ich besoffen und hatte meine Band dabei. Heute bin ich nüchtern und alleine – das kann für uns alle böse enden...“ Hansards einzige Begleiter sind ein Piano und eine abgeranzte Akustikgitarre. Und ja, fleißige Konzert-besucher haben das schon unzählige Male erlebt – aber ganz ehrlich: Noch nie so gut wie bei Glen Hansard! Sobald der Ire da seine Songs schreit und kreischt und flüstert, wenn es ihn vor lauter Emotion und Aufopferung nur so schüttelt und man sich fragt, warum ihm die Saiten noch nicht längst die Fingerkuppen abgeschnitten haben, dann kriecht dir die Gänsehaut langsam aber sicher über den Rücken bis über die Kopfhaut.
Ein Mann, eine Gitarre. Glen Hansard spielte sich wahrhaftig die Seele aus dem Leib.
Das Konzert reiht gefühlt einen magischen Moment an den nächsten: Etwa wenn Hansard davon erzählt, wie er aus seinem Nightliner die flüchtenden Familien in Österreich am Autobahnrand beobachten musste, im Anschluss daran mit „Wayback When“ die Flüchtlingsgeschichte der Iren thematisiert und dazu spontan einen italienischen Bekannten mit auf die Bühne holt, der mit einem selbst konstruierten Bauchladen-Hackbrett in die Hymne mit einsteigt. Oder wenn der Ire am Ende unplugged am Bühnenrand aufspielt und die Nachbarn ihn spontan aus einer angrenzenden Wohnung mit ihren Scheinwerfern beleuchten. Oder wenn Glen ein Lied des legendären Woody Guthrie, der einst einen Schmähsong auf seinen ausbeuterischen Vermieter Fred C. Trump schrieb, aufgreift, intoniert und um eigene Strophen über
Fred´s Sohn Donald ergänzt. Die Fans, ach was, wir alle, sind jedenfalls hin und weg.
Perfekte Balance und andächtige Stille
An dieser Stelle müssen wir auch über die Steinberggasse sprechen: Die Location gehört sicherlich zu den schönsten und ungewöhnlichste Festivalvenues in ganz Europa. Eingesäumt von den Häuserfassaden zieht sich der schlauchförmige Besucherpulk durch Winterthurs Innenstadt und vermischt dabei die besten Eigenschaften von Festivalshows (frische Luft und freier Himmel) und Clubgigs (der Sound wird eingefangen und kanalisiert). Und überhaupt der Sound: Andy, Glen und Feist zeichnen sich prinzipiell ja nicht durch Lautstärke und große Gesten aus. Ihre Songs sind verweht und verwaschen, Kleinode, wenn man so will, die sich durch in Handarbeit geschnitzte Nuancen und kleinstteilige Detailarbeit auszeichnen und definieren. Speziell auf den großen Festivalbühnen, das zeigt die Erfahrung, werden solche zerbrechlichen Soundfrickeleien oft in den Sand gesetzt. Zu laut oder zu leise abgemischt. Oder von den parallel schep-pernden Punk- oder Elektrobands einfach weggewischt und absorbiert. Nicht so in Winterthur, wo es den Technikern gelang, die perfekte Balance zu finden. Jeder Ton klingt glockenklar und in der idealen Lautstärke, während das Publikum sich durch teils andächtige Stille auszeichnet. Ja, die Rahmenbedingungen könnten kaum besser sein.
Königin der Loops und unsichtbarer Superstar
Und schon schleicht sie sich aus dem Nebel. Leslie Feist. Popphänomen. Popgeist. Unsichtbarer Superstar. Die Königin der Loops und des LoFi. Leslie Feist, die nie so richtig zu greifen war, die seit Ende des letzten Jahrtausends auf eine strange Art und Weise gleichermaßen gut gelaunte Alternative-Musik daher klimperte, dabei aber stets auch vom Blick in den Abgrund erzählte. Feist, eine der unscheinbarsten und doch besten Gitarristen der ganzen Szene, die mit ihrem Instrument ein ums andere Mal ein unheilvolle Liaison eingeht, die uns Zuhörer so nachhaltig fasziniert. Weil man diesem konzentrierten Abreiben nicht entziehen kann. Weil man diese gleichermaßen magnetische und sich doch abstoßende Beziehung unbedingt bezeugen will. Feist reiht sich hierbei in eine großartige Tradition bei den Musikfestwochen ein, die nie auf die allergrößten Namen setzten, aber immer auf Qualität und Exklusivität. Sigur Rós, Eels. Damien Rice.
50 Shades Of Feist. Leslie Feist spielte in Winterthur ein komplexes Konzert. Laut, leise, brachial - Feist kann alles
Beim Konzert wird schnell klar, dass Feist keine Frau für halbe Sachen ist. Kompromisse sind ausgeschlossen. Deshalb spielt sie ihr aktuelles Album „Pleasure“ komplett und an einem Stück. Ausgerechnet „Pleasure“, jenes atonale Machwerk, das noch ein wenig seltsamer tönt als seine ohnehin schon seltsamen Vorgänger. Bei dem alles knarzt und rauscht, das beinahe manisch wirkt. Doch das Experiment geht auf: Die Frontfrau verbeißt sich in den Saiten, während ihre drei Begleiter nur punktuell konkrete Highlights setzen. Etwa wenn da plötzlich aus der Tiefe der Raumbühne ein erschütterndes und dunkeldüsteres Donnergraulen aufbraust, das wie ein Tsunami über die grazilen Versplitterungen hinweg rauscht, die sich Feist selbst gerade zurecht gelegt hatte. Als massiver Höhepunkt erscheint „Century“, jenes Mahnmal von Song, das Live noch eine intensivere Strahlkraft als in der Studioversion entwickelt. Abseits ihrer Musik wirkt Feist übrigens alles andere als unnahbar: Als ein Streit zwischen den Musikfans in der Gasse und VIP-Gästen auf der Tribüne ausbricht, weil Letztere sich lieber lautstark unterhalten, als den herumrauschenden Sounds zu lauschen, schlichtet Feist tiefenentspannt: „Oh, gibt es da einen Kampf? Das ist ja aufregend!“ „Ja, die reden die ganze Zeit, während du spielst!“ „Hm, vielleicht haben sie den Song nicht gemocht? Ich hoffe der hier gefällt ihnen besser.“ Dann ist Ruhe im Karton, während das Konzert mit einem kurze Best Of-Set inklusive „Let It Die“ und „My Moon My Man“ ausklingt. Grandios!

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