von Kathrin Zellweger (1948-2019), 16.11.2014
Strafen – sühnen – bessern
Wie die Geschichte der Strafvollzugsanstalt Tobel aufarbeiten, wenn amtliche Akten nur spärlich und Personendossiers gar nicht mehr vorhanden sind? - Historikerin Verena Rothenbühler gibt Antwort.
Kathrin Zellweger
Im Auftrag des Vereins Komturei Tobel nahm sich Verena Rothenbühler jenes Teils der ehemaligen Johanniterkomturei an, die noch unerforscht war: der Zeit von 1811 bis 1973, als in diesen Mauern nicht nur Straftäter, sondern auch Arme, Landstreicher, Bettlerinnen und Arbeitsscheue einsassen. „Es geht um ein verdrängtes Stück Thurgauer Geschichte, das alle kennen sollten“, resümiert sie nach ihrer historischen Arbeit.
Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten überrascht?
Die Historikerin in mir wunderte sich, warum die Quellenlage ausgerechnet für die kantonale Strafanstalt ab 1900 so schlecht ist. Die Rechenschaftsberichte der Verwaltung sind ab 1880 qualitativ und quantitativ dürftig, werden bis 1926 noch dürrer, bis sie schliesslich ganz fehlen. Die Bürgerin in mir staunt, dass das drakonische Strafsystem, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, im Thurgau nie modernisiert wurde und bis ins 20. Jahrhundert praktisch unverändert bestand.
Im Tobel der Busse: Die Komturei und ehemalige Strafanstalt Tobel heute. (Alle Bilder: Rolf Müller)
Wie erklären Sie sich das?
Mit Eröffnung der Strafvollzugsanstalt 1811 und der Einführung eines systematischen Strafsystems gehört der Thurgau zu den Musterknaben in Sachen Zucht und Ordnung. Die Umsetzung in die Praxis klappte dann aber nicht mehr, nicht zuletzt wegen mangelnder Finanzen. Nachdem in den 1880ern die letzten erwähnenswerten baulichen Erneuerungen getätigt worden waren, versiegten Reformwille und Interesse. Tobel war weit weg: geografisch, gesellschaftlich und politisch. Die Kettenstrafe gab es bis 1869, die körperliche Züchtigung offiziell bis 1890. Schweigegebot, Dunkelarrest bei Wasser und Brot wurden beispielsweise erst Ende der 1960er-Jahre abgeschafft.
… und niemand wehrte sich für die Insassen oder prangerte diese Zustände an?
Erst mit der 68er-Bewegung gerieten Institutionen wie Strafanstalten, Heime und psychiatrische Kliniken in den öffentlichen Fokus, was ab 1970 zur Liberalisierung des Vollzugs und zur Verbesserung der Rechte der Strafgefangenen führte. Bevor dieser Prozess in Tobel wirksam werden konnte, wurde die Anstalt 1973 geschlossen – ziemlich sicher auf Druck, weil man nicht länger eine menschenunwürdige Straf- und Gefängnisanstalt duldete, die nichts zur Resozialisierung beitrug. Übrigens: Ältere Thurgauerinnen und Thurgauer erinnern sich, dass man ihnen als Kind angedroht hat, sie kämen nach Tobel, wenn sie nicht artig seien. Man kann daraus schliessen, dass das Unrechtsbewusstsein, dass hier Menschen- und Freiheitsrechte mit Füssen getreten wurden, in der Bevölkerung lange Zeit ebenfalls kaum vorhanden war.
Hier endete die Freiheit: Eingangstor zur Strafvollzugsanstalt.
Hinter Schloss und Riegel.
Gibt es schriftliche Zeugnisse von Gefangenen, die sich zum Alltag hinter den Mauern äussern?
Nein, was mir ein Rätsel ist. Ich weiss nicht, weshalb Personenakten sowie Erfahrungsberichte, Briefe und Erinnerungen vollständig fehlen, obwohl Hinweise annehmen lassen, dass es solche gegeben haben muss. Ich kann nicht sagen, ob die Akten bei der Schliessung der Strafanstalt wissentlich zerstört oder aus Fahrlässigkeit entsorgt wurden.
Dann weiss man also nichts über das Leben der Gefangenen?
Doch, der Alltag lässt sich anhand des Schriftverkehrs zwischen der Strafanstalt und der Regierung rekonstruieren. Darin ging es im Wesentlichen um Übertretungen und Missstände, die von Tobel nach Frauenfeld gemeldet wurden. Von dort kamen dann die Befehle und Anordnungen nach Tobel zurück. Aber es bleibt dabei: Die Gefangenen kommen in diesen bürokratischen Akten nicht selber zu Wort, sie erscheinen nur indirekt und gefiltert.
Gesiebte Luft.
Wer oder was bestimmte deren Schicksal?
Deren Lebensbedingungen waren einerseits bestimmt durch die persönliche Auffassung des zuständigen Regierungsrates, noch mehr aber durch das Menschenbild des jeweiligen Verwalters. Allerdings muss ich zur Ehrenrettung des Personals sagen, dass es für seine Aufgabe keine fachliche Ausbildung hatte. Der Verwalter musste etwas von Buchhaltung verstehen und die Gefängniswärter hatten tüchtige Handwerker zu sein. Das Personal stammte aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht wie die einsitzenden Menschen. Man kannte sich, was die Situation zusätzlich schwierig machte. Daraus ergaben sich punktuell auch berührende Momente, wo ein Wärter einem Gefangenen etwas zusteckte oder als Bote zur Aussenwelt fungierte. Tobel war nicht nur ein Gefängnis, es war auch eine Gemeinschaft mit Geheimnissen und persönlichen Beziehungen.
Welche Akten waren für Sie schliesslich ergiebig?
Anhand der Gesetze und der Hausordnungen konnte ich die Strafvollzugspraxis über 160 Jahre rekonstruieren. Die administrativen Akten zwischen Strafanstalt und Regierungsbehörde, die Jahresrechnungen, Jahresberichte, Budgets, Gutachten, Verzeichnisse, Anordnungen und Befehle, belegen das Funktionieren und damit die Geschichte der Strafanstalt Tobel. Auch wenn aus diesen Akten das Leben der Insassinnen und Insassen in der Strafanstalt nur durch die Verwaltungsbrille erscheint, sind sie der einzige Zugang zur Geschichte der Anstalt und vermitteln uns eine Ahnung vom entbehrungsreichen und isolierten Alltag hinter Gittern.
Zur PersonVerena Rothenbühler, studierte in Zürich und Wien Geschichte, Kunstgeschichte und Politikwissenschaften. Seit 1994 arbeitet sie als selbständige Historiker, Autorin und Redaktorin. Im oder für den Kanton Thurgau wurde sie bei mehreren historischen Projekte beigezogen: Als Thurgau-Redaktorin für das Historische Lexikon der Schweiz, zur Geschichte der Gebäudeversicherung im Thurgau und zur Geschichte des Historischen Vereins des Kantons Thurgau. Sie lebt in Winterthur. |
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Buchvernissage: „Im Tobel der Busse. Komturei und Strafanstalt Tobel 1226-2014“ (Thurgauer Beiträge zur Geschichte, Band 152) mit Beiträgen von Markus Brühlmeier, Verena Rothenbühler, André Salathé und Walter Strasser; 20. November, 19 Uhr, Komturei und Strafanstalt Tobel.
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