von Bettina Schnerr, 27.05.2021
Wo Bücher zu Schätzen werden
Alles redet von Digitalisierung. Sterben gedruckte Bücher bald aus? Wer das wirklich glaubt, der sollte mal Sandra Merten in ihrer Buchbinderei in Gottlieben besuchen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
So schwer zu finden, wie es klingt, ist die Buchbinderei gar nicht. Das Dorf Gottlieben am Rhein ist zum Einen nicht sehr gross, zum Anderen muss man nur dem Ruf der Literatur folgen und der führt hier zielsicher ins Literaturhaus des Kantons Thurgau.
Einen besseren Ort für eine Buchbinderei gibt es wohl kaum. Im Erdgeschoss des historischen Riegelhauses besteht seit dem Jahr 2000 eine Buchbinderei. Seit 2016 führt Sandra Merten den kleinen Handwerksbetrieb, darf dieses Jahr also ihr fünfjähriges Jubiläum feiern.
Ein Einband aus Stadtplänen — warum nicht?
Für Besucher ist die Werkstatt ein Fest für die Augen. Farbige Schachteln, viele davon von Merten selbst gemacht. Zahllose Fächer, kleine Gerätschaften und Dosen, volle Regale und Maschinen laden zum Rundgang ein. Zwischendrin stehen und liegen alte, museumsreife Bücher neben frisch gebundenen Büchern.
Und dazwischen immer wieder eigene Arbeiten, meist Notizbücher in verschiedenen Ausführungen. Mit ihnen tobt sich Sandra Merten zwischen klassischer Eleganz und Popmoderne aus. Verkauft werden diese im kleinen Shop des Literaturhauses.
Mit dabei sind Mappen aus pflanzlich gegerbtem italienischen oder auch veganem Leder, die dank austauschbarer Papierbögen lange genutzt werden können. Kleinere Formate bindet Sandra Merten zum Beispiel in alte Landkarten und Stadtpläne, wenn sie passendes Material in die Finger bekommt. „Damit arbeite ich wirklich gerne,“ verrät sie. „Ebenso gerne wie mit selbst gestalteten Papieren.“
Inhalt, Material, Gestaltung: Im Idealfall passt alles zusammen
Das Wichtigste sei es, erzählt Sandra Merten, zu Beginn ein Gespür für die Kundenwünsche zu bekommen. „Meist breite ich verschiedene Materialien aus und wir vergleichen Farben und Strukturen,“ sagt die Buchbinderin über den Einstieg. „Bei der Besprechung merke ich meistens sehr schnell, welche Vorlieben die Kunden haben und was ich umsetzen muss.“
Viele Bücher sollen möglichst original erhalten werden. Dann ist natürlich Materialtreue gefragt. Besonders schön jedoch ist es, wenn Merten kreativ werden darf. In solchen Fällen schaut sie sich den Inhalt des Buchs gut an, um Material, Gestaltung und Farben darauf abzustimmen.
Menschen lassen binden, was ihnen etwas bedeutet
Was damit gemeint ist? Sie legt ein Buch auf den Tisch, eingebunden in samtig weiches Leder, das in unterschiedlichen Grüntönen eingefärbt ist und viele kleine, runde Prägungen zeigt. Es erinnert an weiche Mooskissen, vielleicht flirrende Baumkronen und lockt zum Drüberstreichen.
Eine Einschätzung, die Merten freut: „Im Buch dreht es sich tatsächlich um das Thema Wald,“ verrät sie. „Wenn Einbände sofort die richtigen Assoziationen hervorrufen, werden sie zu Highlights mit einem besonderen Wert.“
Immer wieder erhält sie Bücher, die zu privaten Schätzen geworden sind und möglichst lange erhalten werden sollen. „Kinder- und Kochbücher sind dabei, die schon einige Generationen weitergegeben wurden“ erzählt die Buchbinderin. Manchmal brauchen aber auch moderne Taschenbücher schon eine Kur bei ihr. „Die wurden zur Loseblattsammlung, bedeuten den Menschen aber viel.“ Merten fügt alles wieder zusammen und benutzt den ursprünglichen Einband für die neue Fassung.
„Typische“ Kundenaufträge gibt es nicht
Gibt es da eigentlich Gemeinsamkeiten, wenn Bücher der gemeinsame Nenner sind? Von Merten kommt ein klares Nein: „Typische Kunden habe ich keine. Ich bekomme hauptsächlich Einzelaufträge und da ist die Spannbreite enorm.“
Natürlich sind gelegentlich alte Lederbände und bibliophile Kostbarkeiten dabei, die fachgerecht restauriert werden müssen. Mit ihrer Spezialisierung für historische Einbandtechniken ist Merten dafür eine ideale Anlaufstelle. Oft kommen auch Bibliotheken vorbei, die zum Beispiel Zeitungen archivieren müssen und dafür stabile Bindungen brauchen.
Bunte Papiere für Buchumschläge und Vorsatzpapiere sind fast immer handgemacht und auch Merten experimentiert damit. Für eine ihrer Lieblingstechniken muss es richtig kalt sein: „Im Winter arbeite ich an Eispapieren,“ sagt sie. „Mit wässrigen Farbaufträgen erziele ich sehr schöne Effekte, wenn sie einfrieren. Ich mag es, dass der Zufall bei solchen Arbeiten die Hauptrolle spielt.“ Wie die Effekte am Ende aussehen, weiss Merten vorher nie. Nur eines ist sicher: Schön werden sie alle.
Der Charme des Zufalls
Wo wir gerade von Zufällen sprechen: Dass Sandra Merten heute Buchbinderin ist, zählt auch dazu. „Ursprünglich stamme ich aus der IT-Branche und wollte bei einem Schweden-Aufenthalt eigentlich nur in die Buchbinderei schnuppern“, erinnert sie sich. Schnell war aber klar: Dieser Beruf ist der Richtige. Sie absolvierte die Lehre an einer Schule für Kunsthandwerk, erarbeitete sich den Gesellenbrief in Südschweden und trat im Norden des Landes ihre erste Stelle an bei einer Stiftung für Kulturgüterpflege.
Hat die Buchbinderei eine Zukunft? So manch ein traditionelles Handwerk hat es schwer, Nachwuchs zu finden, zumal die Berufe aus dem Blickfeld verschwinden. Doch die Buchbinderei gehört nicht dazu: „Erst vor Kurzem war eine junge Frau auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz hier,“ erzählt Merten und ist sich sicher: „Es gibt weiterhin Bücher, die gebunden und bewahrt werden müssen und deshalb wird der Beruf des Buchbinders so schnell nicht aussterben.“
Video: Literaturhaus und Buchbinderei im Porträt
Kurse in der Buchbinderei
Sandra Merten bietet in ihrer Handbuchbinderei auch Kurse an. Zu ihren Angeboten gehören neben klassischem Buchbinden unter anderem Schachtelbau, mittelalterliche oder japanische Bindetechniken oder Prägetechniken. Auch Kurse nach eigenen Wünschen sind möglich. Voraussichtlich ab Sommer wird es, abhängig von der Pandemie, ein neues Kursprogramm geben.
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