von Bettina Schnerr, 08.02.2022
Wie man sich in der Literatur selbst begegnet
Gemeinsam Literatur entdecken: Das ist die Idee hinter «Shared Reading». Die Weinfelder Bibliotheksleiterin Rahel Ilg bringt das Konzept jetzt in den Thurgau. (Lesedauer: ca: 3 Minuten)
„Es gibt einen Tag im Leben, den du nie vergisst, so sehr du es auch versuchst,“ liest Rahel Ilg aus dem ersten Text vor, den sie für das Shared Reading in der Bibliothek Weinfelden ausgewählt hat. Sie wird die fünf Seiten der Kurzgeschichte in Etappen lesen und zwischendurch bereits erste Gespräche über das Gelesene ermöglichen, bevor zum Schluss der gesamte Text bekannt ist.
Worte einfach wirken lassen
Der Text ist „Ein Tag im Juni“ von Sylvia Plath, zu dem sich so einige Interpretationshilfen für Schüler:innen im Netz finden. Doch die braucht man für Shared Reading überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: „Die Veranstaltungen sind offen für alle, die Freude daran haben zuzuhören und einen Text auf sich wirken zu lassen,“ erklärt Ilg. „Jeder kann beitragen, was er über das Gelesene denkt.“ Auch Schweigen ist willkommen, sei es, weil sich ein Text nicht gleich erschliesst, sei es, weil jemand tatsächlich nur zum Zuhören gekommen ist. Dabei sein ist alles.
Geschwiegen wird allerdings nicht viel. Die Geschichte über den warmen Sommertag, den zwei Mädchen mit einem Paddelboot an einem Fluss erleben, fordert schnell erste Eindrücke heraus. „Jetzt ist alles klar,“ lacht eine Frau, als nach zwei oder drei Seiten zwei Jungen auf der Bildfläche erscheinen. Eine zweite wirft ein, dass sie sich statt auf romantische Verwicklungen lieber auf ein Bootsrennen eingelassen hätte und eine dritte löst mit ihrer Ortskenntnis das Rätsel, wie der Bootsverleih auf einem Fluss funktioniert.
Woher das Konzept ursprünglich kommt
Shared Reading stammt ursprünglich aus Liverpool und ist eine Entwicklung der Dozentin Jane Davis. Diese wollte mit offenen Gesprächsrunden die Freude an Literatur möglichst vielen Menschen ermöglichen. Ihre Herangehensweise setzt daher nicht auf literaturwissenschaftliche Aspekte, sondern auf die emotionale Wahrnehmung.
Typisch sind Gespräche darüber, wie die Stimmung im Text ist, ob man ähnlich handeln würde oder die Figuren sympathisch findet. Denn ein ambitionierter Literaturkreis will Shared Reading auf keinen Fall sein.
Die Gespräche finden immer kostenfrei und in offenen Räumen statt. „Manche Bibliotheksbesucher bleiben in der Nähe und hören ein bisschen mit,“ weiss Rahel Ilg. „Es ist auch gewollt, dass diese Form der Literaturvermittlung nicht hinter geschlossenen Türen stattfindet.“
Jeder Beitrag ist willkommen
Zwar liest Ilg stets vor, sagt über ihre Aufgabe aber: „Ich muss relativ wenig machen.“ Von ihr kommen Impulse für das Gespräch, doch direkte Aufforderungen an die Leute in der heutigen Plath-Runde oder gar Interpretationen vermeidet sie, denn die Runde wird von der Bibliotheksleiterin nur initiiert.
Wer am Tisch sitzt, auf dem Ilg warmen Tee für alle verteilt hat, ist nicht etwa Teilnehmer:in, sondern Teilgeber:in. Heisst im Klartext: Die eigentliche Quelle für den literarischen Austausch und die Inspiration, die Reflexion und die Einschätzung sind immer die Gäste.
Was das bedeutet, zeigt sich beim zweiten Beitrag, einem Gedicht der Nobelpreisträgerin Wisława Szymorksa. „Erst dachte ich, mit dem komme ich überhaupt nicht zurecht,“ sagt eine Frau. „Ich hätte das Blatt am liebsten weggelegt. Aber dann kamen eure Ideen und jetzt kann ich mit den Sätzen schon viel mehr anfangen.“
Literaturvermittlung mit Relax-Effekt
Wissenschaftlich erwiesen ist übrigens, dass Literatur und der Austausch darüber positive Effekte auf das Wohlbefinden und den sozialen Austausch haben. „Nur neunzig Minuten Shared Reading wöchentlich wirken entschleunigend und lassen Sie Weltliteratur ganz unangestrengt erleben,“ könnte man auf den imaginären Beipackzettel schreiben.
Der soziale Effekt von aktiv erlebter Literatur ist so gross, dass sogar Therapeuten oder Sozialarbeiter Shared Reading für sich entdeckt haben.
Noch gibt es nicht so viele Shared Readings in der Schweiz
Der Name des Angebots ist inzwischen geschützt. Wer Gesprächsrunden unter dem Label „Shared Reading“ anbieten möchte, macht zuvor eine Ausbildung zum so genannten „Facilitator“. Während in England inzwischen über 400 Gruppen aktiv sind, ist das Angebot in der Schweiz noch im Aufbau. Etwa zwei Dutzend zertifizierte Leiter:innen gibt es derzeit und Rahel Ilg ist die erste Thurgauerin unter ihnen.
Sie sieht in der Organisationsform einige Vorteile. Beispielsweise muss sie sich nicht um Urheber- und Nutzungsrechte kümmern. Diese klärt Shared Reading zentral für alle und stellt die Texte zur Verfügung.
Oft wirken die Texte noch lange nach
Auch Literaturliebhaber:innen profitieren davon: „Das Label schafft eine durchgängige Qualität,“ findet Ilg. „Jeder weiss, welches Angebot er bekommt und findet zum Beispiel auch nach einem Umzug schnell wieder Anschluss.“
Am Ende einer Veranstaltung bekommen alle den Text mit nach Hause. Erfahrungsgemäss beschäftigen sich viele auch nach dem Bibliotheksbesuch noch damit. Rahel Ilg hat bereits Mails bekommen, in denen die Teilnehmer:innen ihre Ideen weiterspinnen. Ganz so, wie Erfinderin Jane Davis es sich gewünscht hat.
Shared Reading-Angebote im Thurgau
Regionalibliothek Weinfelden (deutsch): Die nächsten Termine: 9. & 16. Februar, jeweils ab 10 Uhr. Mehr dazu gibt es auf der Website der Bibliothek.
Kantonsbibliothek Frauenfeld (mehrere Sprachen): Die nächsten Termine: 11. Februar, 19. Februar, 5. März, 25. März. Mehr im Überblick.
1.Schweizer Biblioweekend: 25.bis 27. März 2022: Shared Reading - Thurgau Special, Regionalbibliothek Weinfelden
Mit Texten von Peter Stamm und Paul Ilg
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