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von Bettina Schnerr, 02.09.2020

Weil es immer noch notwendig ist

Weil es immer noch notwendig ist
Die Farbe Lila dominierte beim Frauenstreik die Innenstadt von Bern. | © Annette Boutellier

Ein Jahr nach dem schweizweiten Frauenstreik vom 14. Juni 2019 erschien am diesjährigen Jahrestag der passende Fotoband dazu. Er enthält Bilder von 32 Fotografinnen, die den Streik an verschiedenen Orten begleitet haben, von ländlicheren Regionen bis hin in die hippen Metropolen.

Den Frauenstreik des vorigen Jahres haben jene, die beteiligt waren, durchweg positiv in Erinnerung. Die Kundgebungen erzeugten ein Gefühl des Miteinander und werden als kreativ und energiegeladen, fröhlich und entschlossen beschrieben. Dass der Tag mit einem Fotoband in guter Erinnerung behalten werden soll, ist also nur allzu gut verständlich. Doch die Entstehungsgeschichte des Buchs erzählt auch davon, warum Tage wie dieser 14. Juni immer noch notwendig sind.

Während den Vorbereitungen zum Frauenstreik fiel der Berner Fotografin Yoshiko Kusano auf, dass sich im Pressekorps für die Vorberichterstattung praktisch nur Männer befanden. Doch warum sollten bei einem Aktionstag, der die fehlende Gleichstellung der Schweizer Frauen thematisiert, ausgerechnet diese nicht in die Berichterstattung einbezogen werden? Kusano begann, Fotografinnen aus allen Schweizer Regionen zu organisieren, die den Tag begleiten würden. Mit zahlreichen Schweizer Medien entstand begleitend die Vereinbarung, dass sie für die Berichterstattung vorrangig Bilder eben jener 32 Schweizer Fotografinnen einsetzen würden. Passend zum Tag, passend zur nationalen Presse.

Mittendrin in Bern: Fröhliche Superheldinnen. Bild: Kari*n Scheidegger

Altbackene und männerdominierte Presselandschaft

„Passiert ist praktisch nichts davon,“ erinnert sich Mitherausgeberin Caroline Minjolle an die Tage danach. „Die Fotos stammten mit extrem wenigen Ausnahmen aus den üblichen Quellen, zum Beispiel nationalen Bildagenturen. Die Vereinbarung wurde ignoriert.“ Der Frust war verständlicherweise gross. Sollte die ganze Arbeit umsonst gewesen sein? Mal wieder? Die Fotografinnen waren überzeugt, dass ihre Bilder eine andere Realität zeigten als die der sonst männlichen Fotografen. Um das deutlicher zu dokumentieren, entschied sich die Gruppe für ein Fotobuch. Stellvertretend für die Gruppe planten Kusano und Minjolle gemeinsam mit Francesca Palazzi als Herausgeberinnen das Projekt.

„Wir wählten mit der gesamten Gestaltung einen frischen, modernen Ansatz,“ erzählt Minjolle, die auch bei der Kulturstiftung des Kantons Thurgau arbeitet. „Wir wollten ganz undidaktisch die gesamte Bandbreite der feministischen Bewegung zeigen. Von den Kindern, die auf der Strasse waren, bis zu den Grossmüttern.“ Die Herausgeberinnen verzichten bewusst auf umfangreiche Texte und Essays und konzentrieren sich komplett auf ausgewählte Fotos und Statements aller beteiligten Fotografinnen.

„Unsere Fotos zeigen eine andere Realität.“

Caroline Minjolle, Fotografin

Wie unterscheiden sich die Fotos der Fotografinnen von jenen der Fotografen, die am Frauenstreik fotografierten? „Typischerweise achteten die Männer mehr auf fotogene Menschen,“ erklärt Minjolle. „Sie suchten gerne attraktive Frauen und Mädchen für ihre Sujets und reagierten weniger auf die Vielfalt wie wir.“ Wie stark die männliche Motivwahl nach wie vor in den Köpfen von Entscheidern verankert ist, zeigt der Swiss Press Award 2020, der im April verliehen wurde. Er ging an Yves Lereche, ironischerweise für seine Fotos beim Frauenstreik: Unter seinen Referenzbildern finden sich zahlreiche fröhliche, schlanke junge Frauen, auch teilnehmende Männer als zentrales Bildmotiv oder halbnackte Protestantinnen.

„Den Fotografinnen hingegen war die gesamte Bandbreite wichtig. Zum Einen, indem wir möglichst viele Orte mit ganz unterschiedlichen Aktionen abdecken wollten. Zum Anderen mit den Motiven,“ stellt Minjolle fest. „Wir wollten die Kreativität der Plakate. Wir wollten die Frauen so abbilden, wie sie waren und legten Wert auf Inklusion. Wir wollten die Frauen ihres Engagements oder ihren Kostümen zuliebe ablichten und nicht, weil sie einem Schönheitsideal entsprachen.“

Volle Strassen, unzählige Plakate: Die Forderungen des Frauenstreiks haben sich auch am Jahrestag noch nicht erledigt. Bild: Caroline Minjolle

Aktuelle und bittere Note

Eines der Hauptthemen des Streiks von 2019 war die unbezahlte Betreuungsarbeit, die Frauen leisten. „Mehr Cash für Care“, wie es eines der Motive im Buch auf den Punkt bringt. Während der Arbeit am Buchprojekt, die im Januar startete und mit dem 14. Juni als Erscheinungstermin eine klare Ziellinie hatte, brach die Coronakrise über die Macherinnen herein. Sie konnten ihre Arbeit über Konferenz- und Videoschaltungen zwar fortführen, doch zeigten die vergangenen Monate, warum gerade diese Forderung aktuell geblieben ist: Geschlossene Kitas und Schulen gehen hauptsächlich zu Lasten der Frauen. Die Entscheidungen darüber fielen hingegen in vornehmlich männlich besetzen Gremien, denen die Sicht der Betroffenen und der Blick für sinnvolle Unterstützung schlicht fehlt.

Das Fotobuch vereint mit seiner ausgesuchten Gestaltung eine gesellschaftliches Statement mit fotografischer Kultur, das an Aktualität nichts eingebüsst hat.

 

Das Buch und anstehende Präsentationen

Das Buch

Yoshiko Kusano, Francesca Palazzi, Caroline Minjolle (Hg.)

WIR. Fotografinnen am Frauen*streik

ISBN 978-3-85616-934-3

140 Seiten, 126 meist farbige Abbildungen, Schweizer Broschur mit offener Fadenheftung

 

Das Buch ist auch auf Französisch erschienen:

Nous, au coeur de la Grève féministe

ISBN 978-3-033-07858-1

 

Erschienen beim Christoph Merian Verlag, Basel

 

Buchpräsentationen

2.9. Bern, Kulturlokal ONO

Slideshow, mit 4 Fotografinnen und Sibylle Aeberli

 

24.9. Zürich, Buchhandlung Never stop reading

mit Fotografinnen und Sibylle Aeberli

In Bern unterbrachen Mitarbeiterinnen des Detailhandels ihre Arbeit und kamen mit auf die Strasse. Die Fotografin Annette Boutellier drückte ab, weil sie die Euphorie in den Gesichtern festhalten wollte. Bild: Annette Boutellier

 

Eine Szene aus der Zürcher Langstrasse, in der um Mitternacht vor dem Streik ein Autokorso den Startschuss für die Veranstaltungen gab. Bild: Sabine Rock


 

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