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Was bedeutet es heute, Künstler:in zu sein?

Was bedeutet es heute, Künstler:in zu sein?
Zwischen Klischee und Realität: Wie schillernd ist ein Künstler:innenleben noch im Jahr 2023? Eine der Fragen, die unsere neue Serie Mein Leben als Künstler:in beantworten will. | © Canva

Neue Serie: In „Mein Leben als Künstler:in“ schreiben vier Thurgauer Kulturschaffende über ihre Arbeit und ihr Leben. Sie geben ungewöhnliche Einblicke und räumen mit alten Klischees auf. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Seien wir ehrlich: Jeder von uns hat so seine eigene Vorstellungen von dem, was eine:n Künstler:in ausmacht. Künstler:innen gelten wahlweise als exzentrisch, chaotisch, genial und/oder unorganisiert. Viele Menschen denken auch, dass Künstler sich durch ihr ungewöhnliches Aussehen auszeichnen. Diese Vorstellung beruht auf der Annahme, dass Künstler sich bewusst von gesellschaftlichen Normen und Konventionen distanzieren.

Natürlich sind das alles Klischees. Und doch sind sie in vielen von uns verankert. So zum Beispiel auch die Vorstellung, dass Künstler:innen sich für ihre Arbeit gar nichts anstrengen müssten, weil ihr aussergewöhnliches Talent und ihre kreative Brillanz sie stets von einem Werk zum anderen tragen. Das ist natürlich Quatsch. Kunst kommt nicht nur von Können, sondern auch von Wollen. Und wer sich in der heutigen Kulturszene behaupten will, der braucht schon einiges von diesem Wollen.

Ein Blick in die Statistik

Wer ein realistisches Bild vom Leben als Künstler:in in der Schweiz heute bekommen möchte, dem empfiehlt sich zuerst ein Blick in die Statistik:

Im Jahr 2022 gab es in der Schweiz rund 268 000 Erwerbspersonen, die hauptberuflich «Kulturschaffende» im breiteren Sinne sind, hat das Bundesamt für Statistik ermittelt. Dies entsprach 5,4 Prozent der Erwerbspersonen in der Schweiz. Die Kulturschaffenden sind zudem oft gut ausgebildet: 2022 hatte die Mehrheit (60,9 Prozent) einen Hochschulabschluss, gegenüber 42,5 Prozent bei allen Erwerbspersonen.

 

 

Und: 50,2 Prozent der Kulturschaffenden waren im Jahr 2022 Frauen. Die Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern sind markant. Im Kultursektor verdienten im Durchschnitt im Jahr 2020 männliche Kulturschaffende 7458 Franken, weibliche hingegen 6248 Franken, also 16 Prozent weniger. Dieser Abstand ist laut Bundesamt für Statistik grösser als in der Gesamtwirtschaft: dort lag der standardisierte monatliche Medianbruttolohn 2020 bei 6963 Franken für die Männer und 6211 Franken für die Frauen (–11 Prozent).

 

Willkommen im Prekariat

Die Einkommenssituation insgesamt ist eher mau. Suisseculture Sociale hat das 2020 genauer untersucht. Die Resultate waren ernüchternd. Rund zwei Drittel verdienen 40‘000 Franken oder weniger. Zum Vergleich: Der Schweizer Durchschnittslohn von Angestellten in Vollzeit beträgt etwa doppelt so viel. Und: Die Studien legten offen, dass die soziale Absicherung grosse Lücken aufweist.

Nun sind Statistiken das Eine, über das sehr konkrete Leben als Künstler:in sagen diese Durchschnittszahlen oft aber eher wenig aus. Deshalb wollten wir wissen: Wie ist es so dieses Leben als Künstler:in hier bei uns im Thurgau?

Wir begleiten vier Künstler:innen über mehrere Monate

Mit einem Experiment suchen wir in den nächsten Monaten die Antwort darauf. Vier Kulturschaffende aus dem Kanton schreiben ab dem 15. Juni in unserer neuen Kolumnenreihe „Mein Leben als Künstler:in“ ihre ganz persönlichen Sichtweisen auf. Sie erklären, was sie beschäftigt, wie sie arbeiten und geben so auch einen Einblick in ihren Alltag und ein Lebensmodell, das wie kaum ein zweites in Klischees verzerrt ist.

Mit dabei sind diese Künstler:innen:

Ute Klein (*1965), Malerin, studierte an der Universität Bern und der Gestaltungsschule M+F Luzern, Artist in Residence im Künstlerschloss Plüschow (D), Fundaziun Nairs (CH), Cité des Arts Paris (F) und Melbourne (AUS). Ausstellungsbeteiligungen unter anderem im Museum Langmatt Baden (2016), im Kunstmuseum Thurgau (1999, 2001,2013, 2018, 2020), in Kassel (2002, 2009), im Kunstraum Vaduz (2011) und in der Kunsthalle Nairs in Scuol (2017); regelmässige Einzelausstellungen in den Galerien Adrian Bleisch (Arbon) und Sylva Denzler (Zürich) und davor in der Galerie Schönenberger (Kirchberg SG), mehrere Förderpreise und Kunst am Bau-Aufträge. Lebt und arbeitet in Amriswil.

 

Ute Klein. Bild: Michael Lünstroth

 

Fabian Ziegler (*1995), Perkussionist aus Matzingen, ist wahrscheinlich einer der am meisten reisenden Musiker des Thurgau. Tourneen führen ihn regelmässig nach Neuseeland oder in die USA. Ziegler absolvierte seinen Bachelor of Arts und Master of Arts in Musik an der Zürcher Hochschule. Im Dezember 2017 gewann Fabian Ziegler zum zweiten Mal seit 2015 den Migros Kulturprozent-Studienpreis für seine aussergewöhnliche Soloaufführung während des Instrumentalmusikwettbewerbs. Seit 2017 ist er ausserdem Stipendiat der Friedl-Wald-Stiftung und des Rahn Kulturfonds. 2018 & 2020 gewann er den Kiefer-Hablitzel / Göhner Musikpreis.

 

Fabian Ziegler. Bild: zVg

 

Thi My Lien Nguyen (*1995), Fotografin, ist in Amriswil aufgewachsen. Nach dem Vietnamkrieg waren ihre Grosseltern ins appenzell-innerrhodische Dorf Steinegg geflohen. Sie hat als Foto- und Videografin für die Thurgauer Zeitung und die NZZ gearbeitet. In Luzern hat sie zunächst „Camera Arts“ und später „Visual Storytelling“ studiert. Heute arbeitet sie als freischaffende Foto- und Videografin. Ihr Kunstansatz reicht weit: Sie will Diskurs schaffen und Anregungen geben - über das klassische kunstinteressierte Publikum hinaus. Auch deshalb hat sie den «Mili’s Supperclub» gegründet. Dort kocht sie für ihr bekannte und unbekannte Menschen und bringt sie miteinander ins Gespräch.

 

Thi My Lien Nguyen. Bild: János Stefan Buchwardt

 

Tabea Steiner (*1981), Autorin, studierte Germanistik und alte Geschichte. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen, lebt heute in Zürich und ist Mitglied der Autorinnengruppe RAUF. Ihr erster Roman "Balg" erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2022 erschien „Provinces", eine Auswahl ihrer Essays in englischer Übersetzung bei Strangers Press. Im Februar 2023 erschien ihr zweiter Roman "Immer zwei und zwei". Steiner unterrichtet am Departement Kunst & Design der Hochschule Luzern literarisches Schreiben im Studiengang Illustration fiction.

 

Tabea Steiner. Bild: Archiv

Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht

Diese vier Künstlerinnen und Künstler schreiben bis Ende Oktober regelmässig und abwechselnd ihre Kolumnen für die neue Serie. Sie erscheint ab dem 15. Juni immer donnerstags. Die Vorgaben, die wir aus der Redaktion gemacht haben, waren minimal. In Thema, Stil, Darstellungsform, Tonalität und Medialität sind alle Autor:innen frei. Die Autor:innen können sich aufeinander beziehen, müssen es aber nicht.

Eine kritische Auseinandersetzung mit Dingen, die die Künstler:innen beschäftigen, wie den Bedingungen des Kulturbetriebs oder auch mit dem Kulturleben im Thurgau oder was auch immer, ist genauso möglich wie eine Schilderung des Alltags. Ziel der Serie ist es, ein möglichst realistisches Bild der verschiedenen Künstler:innen-Leben zu bekommen. Mit allen Schattierungen, die so ein Leben eben hat.

Realität vs. Klischee

Idealerweise entsteht so ein Netz aus Bezügen - interdisziplinär und umspannend. Mit der Serie „Mein Leben als Künstler:in“ wollen wir den vielen Klischees, die es über Künstler:innen-Leben gibt, ein realistisches Bild entgegensetzen. Das soll unseren Leser:innen Einblicke geben in den Alltag der Kulturschaffenden und gleichzeitig Verständnis dafür schaffen, wie viel Arbeit in einem künstlerischen Prozess steckt.

Denn nur wer weiss, wie viel Mühe, Handwerk und Liebe in Kunstwerken steckt, kann die Arbeit von Künstler:innen wirklich wertschätzen. So wollen wir auch den Wert künstlerischer Arbeit für die Gesellschaft transparenter machen. Neben diesem aufklärerischen Ansatz ist die Serie aber auch ein Kulturvermittlungs-Projekt, weil sie beispielhaft zeigt, unter welchen Bedingungen Kunst und Kultur heute entstehen.

Ziel: Dialog soll entstehen

Was wir uns als thurgaukultur.ch auch erhoffen mit der Serie ist, dass ein neuer Dialog der Kulturschaffenden untereinander entsteht, aber nicht nur. Es soll auch ein Austausch mit dem Publikum, also unseren Leser:innen stattfinden.

Das geht über unsere Social-Media-Kanäle, in denen wir direkt miteinander diskutieren können oder in der Kommentarspalte zu den einzelnen Beiträgen auf unserer Website. Wenn du konkrete Fragen an die teilnehmenden Künstler:innen hast, wenn dich ein Themenfeld besonders interessiert, dann kannst du mir auch direkt schreiben, ich leite dein Anliegen dann gerne weiter: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch

Alle Texte werden im Dossier gebündelt

Wir sind gespannt auf alles, was kommt. Alle Beiträge der Serie bündeln wir in einem gemeinsamen Dossier damit die Texte leichter auffindbar sind. Und jetzt: Viel Vergnügen bei der Lektüre! Los geht es mit einem ersten Beitrag von Ute Klein!

 

Noch ein paar statische Daten zum Künstler:innen-Leben

In der beruflichen Stellung – also der hierarchischen Position – der Kulturschaffenden gibt es nach Zahlen des Bundesamt für Statistik zum Teil markante Unterschiede nach Geschlecht.

 

40,1 Prozent der männlichen Kulturschaffenden hatten in den Jahren 2018-2022 (Datenpooling über 5 Jahre) eine Direktions- oder Kaderfunktion, gegenüber 25,5 Prozent der Frauen. Dieser Unterschied ist in gewissen Kulturbereichen besonders ausgeprägt, namentlich im Kulturerbe (21 Prozentpunkte Unterschied zu Ungunsten der Frauen im Jahr 2022), in der Architektur (20 Prozentpunkte) und in den Darstellenden Künsten (19 Prozentpunkte)

 

 

Wie in der Gesamtwirtschaft und immer bezogen auf die berufliche Hauptätigkeit, arbeiten auch bei den Kulturschaffenden die Männer sehr viel häufiger Vollzeit (64,2 Prozent der Männer im Jahr 2022) als die Frauen (36,7 Prozent), die öfter Teilzeit arbeiten. Die männlichen Kulturschaffenden haben auch etwas öfter nur eine berufliche Tätigkeit (87,4 Prozent im Jahr 2022) als die weiblichen (84,2 Prozent).

 

Rückgang in der Pandemie:

 

Im urbanen Raum ging die Zahl der Erwerbspersonen unter den Kulturschaffenden um 4,4 Prozent zurück, in den ländlichen Gemeinden fast dreimal mehr (–12,4 Prozent).

 

Gewisse Grossregionen wie das Tessin (- 11 Prozent), die Ostschweiz (-12,9 Prozent) oder die Zentralschweiz (-13 Prozent) waren stärker betroffen als die Nordwestschweiz (+0,3 Prozent) oder als Zürich (+3,6 Prozent), jener Grossregion, in der die Zahl der Kulturschaffenden in den Jahren 2010–2019 bei Weitem am stärksten angestiegen war (+20,9 Prozent).

 

 

 

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Kulturschaffende

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