von Andrin Uetz, 23.11.2020
Von St. Tropez bis zum Sunset Boulevard
Die Basler Band Sandro P machte Station in Frauenfeld. Und verzaubert das Eisenwerk in eine unerhörte Traumfabrik. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wir brauchen Kultur, Sprache, Kunst und Musik, vielleicht nicht zum Überleben, zum Leben aber alleweil. Musikschaffenden geht es damit genauso, nur kommt bei vielen hinzu, dass sie die Musik auch zum Überleben brauchen. Ohne Konzertgagen kann die Miete nicht mehr gezahlt werden, fehlt es am Nötigsten.
Unter den derzeitigen Bedingungen rechnet sich das Betreiben von Clubs und Konzertsälen jedoch nicht; die Einnahmen decken die Ausgaben kaum, da Saalkapazitäten nicht ausgenutzt werden dürfen.
Der Verein Kultur Eisenwerk hat sich dennoch – oder gerade deshalb – entschieden weiterhin Konzerte zu veranstalten. Unter strenger Einhaltung der Hygienemassnahmen und mit einer solidarischen Bereitschaft das Defizit selbst zu tragen.
Spielen, um nicht durchzudrehen
Karin Gubler, Programmleiterin der Eisenbeiz sowie der Afro-Pfingsten in Winterthur, kennt die prekäre Lage der BühnenkünstlerInnen seit Beginn der Pandemie. “Es gibt einige Leute, die ich gar nicht mehr per Telefon erreiche. Die sind einfach untergetaucht. Das macht mir schon Sorgen. Es geht gar nicht nur ums Geld, sondern auch um Sinn, um ein Lebensgefühl. Ohne Auftritte fallen viele in die Depression. Darum haben wir im Verein Kultur Eisenwerk uns überlegt, ob es nicht eine Möglichkeit gibt dennoch Konzerte zu veranstalten.
Als spartenübergreifendes Haus können wir das irgendwie querfinanzieren. Es geht darum ein Zeichen zu setzen. Hier kommen sich alle entgegen. Bands, die sonst nur vor grösserem Publikum spielen würden, sind bereit im kleineren Rahmen aufzutreten. In den nächsten Wochen haben wir auch Grössen wie Stiller Has oder 77 Bombay Street im Haus.” Das gesamte Programm findet sich hier.
Morricone und Badalamenti auf LSD
So fand am Donnerstag Abend die Band Sandro P aus Basel den Weg in die Eisenbeiz. In etwas kleinerer Besetzung als gewohnt gab das Projekt von Sandro Corbat (Gitarre, Vocoder) sich die Ehre. Mit dabei Andrea Thoma (Gesang), Marco Nenninger (Bass) und Samuel Dühsler (Schlagzeug). Auf dem Programm stehen hauptsächlich Eigenkompositionen, welche sich als Hommage an die erotische Filmmusik der 1970er und 80er Jahre verstehen.
Klingt schlüpfrig, ist aber vielschichtiger und wird ziemlich genial umgesetzt vom Quartett. Es darf schon mal prickeln oder kitschig werden. Im wesentlichen geht es jedoch um die Stimmung; eine Suche nach dem psychodelischen Pathos der Soundtracks des grossen Kinos.
Der Champagner schmeckt einfach besser im Chateau Marmont
Es ist schon erstaunlich, wie Musik einen Raum komplett verändern kann. Während den zwei Sets wird die Eisenbeiz zu einer Traumfabrik, die Musiker*innen führen das Publikum weit hinaus ins Reich der cineastischen Imagination.
Corbat spinnt mit seiner D’Angelico Stromgitarre sich kontrapunktisch verwebende Barockmelodien, verfremdet, oktaviert seine schimmernden Klänge, arbeitet mit Echo und Delay. Thoma setzt gezielte Akzente mit ihrer Stimme, mal expressiv und verspielt wie Björk, dann wieder sanft und melancholisch wie Lana Del Ray (ein Cover von “Video Games” gab es im ersten Set zu hören).
Getragen und in höchste Höhen katapultiert wird das Ganze von der Rhythm-Section, welche einem fast schon dazu bringt das ausgelutschte Wort “Weltklasse” zu bemühen. Nenniger und Dühsler spielen in diversen Formationen zusammen und das schon lange. Hier stimmt einfach alles; flexibel, genau, verspielt, humorvoll, einzigartig. Mühelos wird zwischen karibischen Rhythmen, Jazz, Prog-Rock und Post-Punk navigiert.
Video: Eine Live-Session von Sandro P aus dem Jahr 2016
Einfach, eingängig, genial, aber leicht?
Nach gebührendem Applaus entlässt uns Sandro P mit einer Coverversion von Chris Isaacs “Wicked Game” (1989) in die Nacht. Unweigerlich kommen Bilder aus dem David Lynch Klassiker “Wild at Heart” (1990) auf, in welchem der Song als Teil des Soundtracks fungiert. Der grosse Topos der unmöglichen Liebe, Variationen von Shakespeares Romeo und Julia; alles da, über drei Akkorde, einfach, eingängig, genial. Aber leicht?
Nein, leicht ist das nicht. So etwas zu interpretieren ist grosse Kunst. Und es bringt uns wieder zurück in die leidigen Diskussionen um Systemrelevanz und den Stellenwert der Kultur in unserer Gesellschaft. Versuchen wir es doch mal so zu sehen: Handwerk, Nachhaltigkeit, Bio, Mindfullness, Karma und Social-Awareness sind wieder hoch im Kurs.
Ein Kunstwerk für 20 Franken!
Vielleicht wird es Zeit sich bewusst zu werden, welch über Jahre gelerntes Handwerk, was für einen körperlichen und geistigen Einsatz MusikerInnen einer Band wie Sandro P für jeden einzelnen Auftritt aufbringen. Und das alles für eine Kollekte!
Um zwanzig Franken bekommen Sie hier ein Kunstwerk auf die Ohren. Das lässt sich auch nicht streamen, das müssen Sie erleben. Das ist unerhört, wahnsinnig und wunderbar zugleich!
(Kleiner Nachtrag: Die Band kam mit ihrem Volvo V70 nach dem Konzert noch in eine Polizeikontrolle. 45 Minuten dauerte der Spass. Alles ok und legal, nicht mal zuviel Promille gemessen und keine Jazz-Cigaretten gefunden. Die Polizei macht ihren Job und wird dafür bezahlt von Steuergeldern. Aber was ist mit der Band und ihrer zusätzlichen Nachtarbeit?)
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